Damit die Transformation gelingt: Für eine gestaltende Industriepolitik

©BMU/photothek/Thomas Trutschel
Svenja Schulze Bundesumweltministerin
©
iStock bluejayphoto

 

 

Die Geschichte der Industrie ist geprägt von technologischen Revolutionen. Sie haben ganze Volkswirtschaften und Gesellschaften grundlegend verändert. Jetzt brauchen wir bis zur Mitte dieses Jahrhunderts eine weitere industrielle Revolution: Die vollständige Dekarbonisierung unserer Industrie. Bis 2050 soll unsere gesamte Volkswirtschaft treibhausgasneutral werden. Das ist notwendig, um die Erderwärmung zu begrenzen. Dazu haben wir uns im Pariser Klimaschutzabkommen verpflichtet.

Aus mehreren Gründen bin ich optimistisch, dass wir diesen Umbau erfolgreich stemmen werden. Angesichts der rasanten klimatischen und umweltbezogenen Veränderungen weltweit und der schon jetzt erkennbaren sozialen und ökonomischen Folgen ist die politische Einsicht in den meisten Staaten inzwischen grundsätzlich da. Erfreulicherweise gilt dies nun auch wieder für die USA, auf die wir in unserem Kampf gegen den Klimawandel nur schwerlich weiterhin hätten verzichten können.

Die Europäische Union hat sich mit dem Projekt des European Green Deal auf einen Kurs begeben, der das Potential hat, auch international wichtige Prozesse anzustoßen. Aktuell versuchen wir im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft ein neues, ambitionierteres, europaweites Klimaschutzziel zu verankern.

Und auch in Deutschland haben wir gerade im letzten Jahr zentrale politische Weichen gestellt: Unser Klimaschutzgesetz setzt einen verbindlichen Rahmen für alle Akteure. Die Maßnahmen, um diesen Rahmen mit Leben zu füllen, liefert das Klimaschutzprogramm 2030: Mit milliardenschweren staatlichen Investitionen unterstützen wir die sozial-ökologische Transformation von Wirtschaft, Industrie und Gesellschaft. Langfristig werden sich diese Investitionen in Form von Wirtschaftskraft und Steuereinnahmen für den Staat mehr als rechnen.

Damit sind wir bei einem Kernpunkt: Die notwendige Transformation muss aus sozialdemokratischer Sicht immer die soziale und damit auch wirtschaftliche Perspektive mitdenken – nur dann hat sie Chancen auf langfristige Akzeptanz und somit auf Erfolg. Dies ist übrigens ein Alleinstellungsmerkmal der SPD: Keine andere Partei ist in der Lage und willens, Klima- und Umweltschutz, Arbeit und Wirtschaft strukturell gleichberechtigt als Ganzes zusammen zu denken.

Ich will, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland dauerhaft zu den wettbewerbsfähigsten der Welt gehört. Voraussetzung hierfür sind die richtigen Rahmenbedingungen und eine staatliche Unterstützung für innovative Klimaschutztechnologien gerade in der energieintensiven Industrie. Wir müssen heute in Märkte und Technologien der Zukunft investieren. Klimaneutrale Industrien werden das Rückgrat unserer Wirtschaft im Jahr 2050 sein. Damit wir diese Technologien morgen erfolgreich einsetzen können, müssen wir heute die richtigen Impulse geben und die Weichen stellen.

Eine solche Zielsetzung ist eine wichtige Voraussetzung. Was wäre all das jedoch ohne den Innovationsgeist von Unternehmen und ihrer Mitarbeiter*innen, die die Herausforderung der treibhausgasneutralen Produktion und Gesellschaft proaktiv annehmen? Die ihre Geschäftsmodelle innovativ und zukunftsorientiert anpassen bzw. weiterentwickeln, neue Technologien und Wertschöpfungsketten schaffen – und damit unseren Wohlstand, Lebensstandard und Arbeitsplätze zukunftsfähig machen und unsere künftige technologische Souveränität sichern helfen? Diese Unternehmen sind „enabler“ des erfolgreichen Umbaus.

Andererseits ist aber auch klar: Der Markt alleine ist zum Anschub der notwendigen Transformationsleistung nicht in der Lage. Wasserstoff als wichtige Energiequelle der Zukunft lässt sich heute noch nicht zu wettbewerbsfähigen Preisen herstellen. Für die Dekarbonisierung der Industrie, insbesondere wenn es um die Reduktion von Prozessemissionen geht, wird Wasserstoff aber eine zentrale Rolle einnehmen und muss deshalb in großem Umfang zur Verfügung stehen. Hier braucht es eine aktive Marktentwicklung – und den Staat als Pionier.

Deshalb lassen wir die Unternehmen, ihre Beschäftigten und die vom Strukturwandel betroffenen Regionen bei der Transformation nicht allein. Das Bundesumweltministerium zum Beispiel hat zur Unterstützung von Klimaschutz in der Industrie das Förderprogramm „Dekarbonisierung der Industrie“ gestartet, um insbesondere der Stahlbranche den Weg zur Produktion von morgen zu ebnen. Und nicht zuletzt das Corona-Konjunkturprogramm der Bundesregierung hat an vielen Stellen einen deutlichen Investitionsschwerpunkt für den Klimaschutz gesetzt.

Doch es bleibt noch viel zu tun. Wichtig sind aus meiner Sicht folgende Schritte:

Erstens: Entscheidend für jeden Industriestandort sind Energiepreise und Versorgungssicherheit. Die aktuelle Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes sorgt für klare und verlässliche Ausbaupfade in den nächsten Jahren. Sie ist aber schon jetzt absehbar zu unambitioniert. Je nach Stromverbrauch brauchen wir statt der bisher geplanten 65 Prozent einen weit größeren Anteil an erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2030. Wir brauchen deutlich mehr Windräder und Solaranlagen als bisher geplant, um die Sektorkopplung – also den Einsatz von erneuerbarem Strom in Bereichen wie dem Verkehr oder dem Heizen von Gebäuden – entscheidend voranzubringen.

Zweitens: Die Nationale Wasserstoffstrategie muss zügig und konsequent umgesetzt werden. Dabei ist es vor allem wichtig, die Elektrolysetechnologien weiter zu entwickeln, effizienter zu machen, großtechnische Einheiten bereitzustellen und insgesamt kostengünstiger zu werden. Das erreichen wir vor allem, indem wir über gezielte Anreize in der Nachfrage nach grünem d.h. aus erneuerbaren Energien gewonnenem Wasserstoff die richtigen Impulse in den Markt bringen. Mit der Umsetzung der EU-Erneuerbaren-Energien-Richtlinie (RED II) schlage ich eine verpflichtende Treibhausgas-Quote für Kraftstoffanbieter vor, damit grüner Wasserstoff in Raffinerien schnellstmöglich zum Einsatz kommt. Eine von mir eingebrachte Quote im Luftverkehr für „Power to Liquid“ (PtL) auf Basis grünen Wasserstoffs fördert zusätzlich den Aufbau von Elektrolysekapazitäten.

Drittens: Ich arbeite daran, ein Pilotprogramm für sogenannte Carbon Contracts for Difference (CCfD) an den Start zu bringen. Mit den Klimaschutzverträgen sollen die Differenzkosten zwischen vermiedenen Treibhausgasemissionen und den jeweils geltenden EU-ETS-Preisen finanziert werden. Das ermöglicht den Markteintritt und wirtschaftlichen Betrieb von Dekarbonisierungstechnologien wie der wasserstoffbasierten Direktreduktion. Innovative Instrumente wie CCfD, bei denen der Staat einen Teil des unternehmerischen Risikos für klimafreundliche Investitionen absichert, sollten aus meiner Sicht zur Förderung zukunftsorientierter Schlüsseltechnologien und strategischer Wertschöpfungsketten verstärkt zum Einsatz kommen.

Viertens: Wir müssen die Chancen der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz als „Türöffner“ zur technologischen Umsetzung der Transformation nutzen. So werden zum Beispiel im Bereich der Industrie 4.0 essentielle Beiträge zum Schließen von Stoffkreisläufen und zur Ressourceneffizienz entwickelt. Auch hier gilt es, durch das Setzen guter Rahmenbedingungen aktiv zu begleiten.

Fünftens: Um dem Klimawandel wirksam zu begegnen und die richtigen Leitplanken für die Industrie zu setzen, werden nationale Maßnahmen nicht ausreichen. Die sozial-ökologische Transformation gelingt nur mit und in der EU. Zentraler Bestandteil der europäischen Klimaschutzarchitektur bleibt – wie schon seit Bestehen des EU-Emissionshandles – die Verhinderung von Carbon Leakage. Von einer Verlagerung der Produktion in Gegenden mit weniger strengen Emissionsauflagen wären nicht nur Arbeitsplätze betroffen, sondern es wäre auch für den Klimaschutz nichts gewonnen.

Die Innovationsfähigkeit und internationale Wettbewerbsfähigkeit der Industrie am Industriestandort Deutschland ist und bleibt eine entscheidende Voraussetzung, um auch in Zukunft für Wohlstand und soziale Gerechtigkeit sorgen zu können. Davon bin ich als Bundesumweltministerin, als Kind des Industrielandes Nordrhein-Westfalen und nicht zuletzt als Mitglied der SPD zutiefst überzeugt.

 

Svenja Schulze