Die Industrie in Deutschland unterliegt zurzeit einem verschärften „Stresstest“. Schon vor der coronabedingten Wirtschaftskrise zeichneten sich in allen Industriebranchen Umbrüche ab, die – aufgrund der tiefgreifenden Veränderungen – als „Transformation“ bezeichnet werden.
Hierbei stehen zwei Herausforderungen im Mittelpunkt:
Unternehmen müssen die Digitalisierung von Produkten und Produktionsprozessen gleichzeitig mit den Anforderungen einer Dekarbonisierung bewältigen. Brennpunkt ist hier vor allem die in Deutschland so zentrale Wertschöpfungskette „Automobil“, an der nicht nur die Endhersteller von Automobilen und ihre Zulieferunternehmen hängen, sondern auch nennenswerte Teile der Stahlindustrie, des Maschinen- und Anlagenbaus, der chemischen Industrie und viele mehr.
Schon vor dem coronabedingten Lockdown im März und April letzten Jahres wurden Schwierigkeiten in vielen Unternehmen deutlich: Die Absätze stagnierten bzw. gingen zurück und die Fragezeichen hinter der Zukunftsfähigkeit von Produkten und Geschäftsmodellen wurden größer. Der Druck auf bestehende Arbeitsplätze wuchs, erste Ankündigungen von Beschäftigungsabbau waren die Folge.
Der Einbruch des Absatzes und der Produktion durch die Corona-Krise wirkt nun als Beschleuniger bzw. Verstärker der Transformationsprozesse, wie unsere Betriebsrät*innen aus Unternehmen und Branchen berichten. Vor allem zwei Problemkonstellationen sind bedenklich und gefährden industrielle Wertschöpfung in Deutschland und Europa nachhaltig:
Der Zeitraum, in dem Unternehmen ihr Geschäftsmodell bzw. ihre Produkte und Produktionsprozesse umstellen und anpassen können, ist deutlich kürzer als bislang erwartet. Dieser Zeitdruck ist fatal, da bis heute häufig unklar ist, welche Technologien, Produkte und Geschäftsmodelle sich im Zuge der Transformation durchsetzen werden. Auch die Politik ist nicht in der Lage bzw. willens, hier eindeutige Signale zu setzen (z.B. durch Setzung eines regulativen Rahmens oder die Umsetzung so dringend notwendiger massiver öffentlicher Investitionen in Infrastrukturen etc.).
Das zweite Problem ist, dass den Unternehmen durch den Absatzeinbruch Umsätze und Gewinne entgehen, die man dringend für private Investitionen in zukünftige Technologien, Produkte und Geschäftsfelder benötigt. Kurzum: Viele, vor allem kleine und mittlere Unternehmen, steuern bzw. sind in eine(r) Liquiditätskrise.
Die große Gefahr, die daraus erwächst, ist nun, dass industrielle Standorte in Deutschland nachhaltig geschwächt und ganze Wertschöpfungsketten gefährdet sind. Erfahrungen aus den letzten Jahrzehnten haben gezeigt: Sind Industrien – und mit ihnen die Arbeitsplätze – nämlich erst einmal abgewandert, kommen sie auch nicht mehr zurück. Hier wird auch deutlich warum Warnungen von wirtschaftsliberaler Seite aus Wissenschaft, Politik und Presse den Strukturwandel durch staatliche Unterstützungsmaßnahmen „zu verzögern“ und damit die „schöpferische Zerstörung“ im schumpeterschen Sinne zu verhindern, ins Leere laufen, und stattdessen eher einer breiten Deindustrialisierung Vorschub leisten.
Mit dem Verschwinden von Industrie gehen nicht nur Arbeitsplätze mit guten Einkommen verloren, Deutschland büßt damit auch Wohlstand insgesamt ein. Zudem würden wichtige Kompetenzen zur Bewältigung des Klimawandels verloren gehen. Bei vielen Unternehmen reicht aber ein „Weiter so“ auf den bislang (durchaus erfolgreichen) Entwicklungs- und Innovationspfaden auch nicht mehr aus. Sie müssen vielmehr ihr Geschäftsmodell überprüfen und anpassen.
Großen Konzernen, denen die gesamte Bandbreite an Forschungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, Zugang zu Wissenschaft und Fördermitteln, Reallaboren, Foresight-Abteilungen etc. zur Verfügung stehen, kann ein solcher Wandel aus eigener Kraft durchaus zugetraut werden. Vielen Unternehmen stehen diese Möglichkeiten jedoch nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung. Manche sind zu klein (KMU) oder sie stehen in der Wertschöpfungskette auf einer unteren Stufe und haben nur eingeschränkte Möglichkeiten bzw. Freiräume, ihr Produktportfolio zu verändern.
Gerade für diese Unternehmen ist es überlebenswichtig, neue Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Die IG Metall hat das Problem erkannt und unterstützt die Betriebsrät*innen in ihren Branchen mit betriebspolitischen Konzepten. Die Betriebsrät*innen sollen in die Lage versetzt werden, mit den Geschäftsleitungen Zukunftskonzepte im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation zu diskutieren und zu vereinbaren, so dass Standorte und Arbeitsplätze gesichert werden.
Die Erfahrungen zeigen jedoch, dass dies alleine nicht ausreicht. Vielmehr müssen den Unternehmen durch industrie- und strukturpolitische Initiativen u.a. Orientierungsrahmen, Anstöße für Diskussionen, bis hin zu konkreten Unterstützungsmaßnahmen zur Verfügung gestellt werden.
IG Metall fordert regionale Transformationscluster
Bislang konzentriert sich die regionale Strukturpolitik – wie z.B. die Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der Regionalen Wirtschaftsstruktur (GRW) oder der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) – auf die Förderung von strukturschwachen Regionen, damit diese den Anschluss an die Gesamtwirtschaft nicht verlieren. Die Folgen der Transformation betreffen aber auch Regionen, die heute noch wirtschaftlich gut dastehen, wie z.B. das Rheinland, Süd-Ost-Niedersachsen, Franken, die Region Stuttgart und viele andere mehr, die die Förderkriterien der Regionalprogramme nicht erfüllen. Andere Förderinstrumente, die auf Innovations- und Technologieförderung ausgerichtet sind, beziehen sich nicht auf die regionalpolitischen Herausforderungen der Transformation und erreichen viele Unternehmen und Regionen deshalb nicht.
Neben den Konzepten eines Transformationsfonds und der Best Owner Group, die beide auf die Verbesserung der Eigenkapitalbasis von Unternehmen abzielen, fordert die IG Metall für die Gestaltung der Transformation und der Bewältigung des damit verbundenen strukturellen Wandels in den Regionen die Förderung von regionalen Transformationsclustern. Hierbei geht es vorrangig um drei Kernelemente:
Erstens: Unterstützung betrieblicher Maßnahmen zur Zukunftssicherung bedrohter Industrieunternehmen auf Basis betrieblicher Zukunftsvereinbarungen. Für die Zukunft notwendig sind Konzepte und Investitionen in den Betrieben, die aufzeigen, wie der Wandel antizipiert und gleichzeitig langfristig tragfähig gelingt. Deshalb müssen in Betrieben gemeinsam von Geschäftsführung und Betriebsrat Lösungen entwickelt werden, um Standorte so auszurichten, dass sie die Anforderungen der Transformation bewältigen können und den Beschäftigten Wege in neue oder veränderte berufliche Qualifikationen und Tätigkeiten eröffnen (betriebliches Zukunftskonzept).
Zweitens: Regionalpolitische Begleitung der betrieblichen Veränderungsprozesse zur Sicherung der vorhandenen industriellen Strukturen. Regionalpolitisch gilt es, die betrieblichen Prozesse zu unterstützen. Im Mittelpunkt steht dabei die Bestandssicherung der vorhandenen industriellen Strukturen (regionales Präventionskonzept).
Drittens: Unterstützung von betrieblichen Veränderungsprojekten für den Umbau von Fertigungstechnologien. Die gesamte Industrie steht in den kommenden Jahren vor gravierenden Technologieumbrüchen, die regionalen Transformationscluster sollten den ökologischen Umbau der Prozesstechnologien finanziell unterstützen und helfen, Zukunftstechnologien in den Regionen zu verankern, um dort neue Perspektiven und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Schwerpunkt sind Maßnahmen zur Entwicklung und Etablierung industriellerer Strukturen jenseits der etablierten Industrien (technologisches Entwicklungskonzept).
Ein regionaler Transformationscluster baut auf ein zweistufiges Verfahren auf.
In der ersten Stufe sind Ideenskizzen/Eckpunkte eines regionalen Zukunftskonzeptes in den Industrieregionen (insbesondere der Automobil- und Automobilzuliefererregionen) vorzulegen. Ideengeber sind dort in der ersten Stufe Unternehmen, Betriebsräte oder wissenschaftliche Einrichtungen.
Mit den in der ersten Stufe ermittelten Ideen wird in der zweiten Stufe ein Konzept vorgelegt, das Wege aufzeigt, wie die Region den Transformationsprozess bewältigen und gestalten will. Akteure der zweiten Stufe sind regionale Transformationsbeiräte. Die Transformationsbeiräte sollten auf regionaler Ebene (Planungsregionen bzw. Länderebene wie dem Saarland) eingerichtet werden.
Teil einer solchen Governance-Struktur sollten die jeweiligen Landkreise und Gemeinden, Unternehmensvertreter, Gewerkschafts- und Arbeitnehmervertreter, die Bundesagentur für Arbeit, Industrie- und Handelskammern sowie Vertreter der Forschungs- und Wissensinfrastruktur sein. Auf dieser Basis können für die Industrieregionen Zukunftsvisionen und Projekte entwickelt, ggf. Investitionen eingeworben werden.
Die sozial-ökologische Transformation ist eine Jahrhundertaufgabe. Durch die Coronakrise haben sich die Herausforderungen verschärft – in den kommenden fünf Jahren werden die zentralen Weichen gestellt. Die Politik und die Gesellschaft müssen daher schnell handeln und Unternehmen und Akteure in den betroffenen Regionen unterstützen.
Wolfgang Lemb