Wer bereits einmal durch das Wolfsburger Automuseum geschlendert ist und sich dort die historischen Volkswagen und deren Entwicklung vor Augen geführt hat, der weiß: Autos haben sich immer schon verändert. Wasser- statt Luftkühlung, Reihen- statt Boxermotor, Front- statt Heckantrieb: Autos sind Produkte ihrer Zeit, die gleichermaßen über technischen Fortschritt sowie über Moden und gesellschaftliche Trends Auskunft geben.
Veränderung hat es in der Automobilwirtschaft immer schon gegeben, allerdings noch nie eine so gravierende wie derzeit. Klimaschutz und Digitalisierung stellen für die gesamte Industrie eine große Herausforderung dar. Hersteller, Zulieferer und Dienstleister in der Automobilbranche durchlaufen mit enormem Tempo einen Transformationsprozess, der weit größer und tiefgreifender ist als Fragen danach, ob ein Auto eine breitere C-Säule oder ein Chrompaket erhalten sollte. Die Fahrzeuge von heute und morgen sind elektrisch und digital vernetzt. Damit steht die Automobilwirtschaft vor dem größten Wandel ihrer Geschichte.
Arbeitsplätze müssen gesichert werden
Mit der Transformation befindet sich die Automobilwirtschaft in einer Situation, in der sie die Unterstützung der Politik benötigt. Direkt beschäftigt sie etwa 800.000 Menschen. Rechnet man die damit ausgelöste indirekte Beschäftigung hinzu, aber etwa auch Familienmitglieder der direkt oder indirekt in der Automobilindustrie beschäftigten Menschen, dann geht es um mehr als zwei Millionen Bürgerinnen und Bürger, deren Lebensunterhalt von der Zukunft der Automobilindustrie abhängig ist.
Die Elektrifizierung des Verkehrs in Deutschland wird voranschreiten. Das Jahr 2020 wird vermutlich im Rückblick als Jahr des Durchbruchs der Elektromobilität gelten. Zwischen Januar und November wurden über 150.000 Autos mit Elektroantrieb neu zugelassen. Im Vorjahr waren es im gleichen Zeitraum 57.000. Kurzfristig beweist die deutsche Automobilindustrie daher schon jetzt ihre Anpassungsfähigkeit. Mittel- bis langfristig stellen sich jedoch neue Fragen.
Beispielsweise die nach der Batterie. Innerhalb des elektrischen Antriebs ist sie die wichtigste Komponente und auch diejenige mit der höchsten Wertschöpfung. Die Frage nach dem Produktionsstandort für Batterien und Batteriezellen ist höchst relevant für unseren Industriestandort Deutschland und für die Arbeitsplatzentwicklung.
Der Elektromotor ist deutlich weniger komplex als ein Verbrennungsmotor. Daher erfordern seine Herstellung und spätere Wartungen und Reparaturen auch weniger Arbeitskräfte – das ist die schlechte Nachricht für den Arbeitsmarkt. Zahlreiche Studien haben sich bereits mit den Auswirkungen befasst und kommen zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Von größter Bedeutung für die Beschäftigung ist die Frage, ob es gelingt, in Deutschland eine Batteriezellproduktion zu etablieren. Je nach Szenario könnte die Automobilindustrie in Deutschland bis zum Jahr 2030 zwischen 16.000 und 61.000 Arbeitsplätze verlieren – sofern die Batterieproduktion hierzulande aufgebaut wird. Gelingt dies nicht, werden Beschäftigungsverluste von 55.000 bis 110.000 Arbeitsplätzen erwartet.
Arbeit und Umwelt müssen in Einklang gebracht werden. Batteriezellfertigung und Batteriebau sind extrem energieintensive Produktionen. Daher ergibt Elektrifizierung umweltpolitisch nur dann Sinn, wenn sowohl die Batterie(zell)fertigungsanlagen als auch die Ladestationen mit erneuerbaren Energien gespeist werden. Die Industriepolitik ist gefordert, die richtigen Impulse zu setzen – beispielsweise den Strompreis durch eine Absenkung oder – besser noch – eine komplette Streichung der EEG-Umlage erheblich zu senken.
Auch die Digitalisierung des Verkehrs ist weit vorangekommen. Das Innenleben der Fahrzeuge ist immer mehr datenbasiert und vernetzt. Auch an der Entwicklung hin zum automatisierten Fahren wird intensiv gearbeitet.
Mobilität verändert sich
Doch das Verständnis von Mobilität hat sich gewandelt – und wird sich womöglich pandemiebedingt weiter wandeln. Während sich insbesondere in den großstädtischen Ballungsräumen immer mehr junge Menschen fragen, warum sie sich eigentlich ein eigenes Auto kaufen sollen, haben Geländewagen in China, den USA und Europa einen wahren Siegeszug angetreten. Fahrvergnügen im eigenen, möglichst geräumigen Auto scheint für nicht wenige doch noch einen hohen Stellenwert zu besitzen.
Insgesamt wird Mobilität jedoch zunehmend als Gesamtangebot nachgefragt, in dem das Fahrrad, die U-Bahn, das Auto und der Fernzug Glieder einer Kette sein können. Unternehmen wie MOIA haben bewiesen, dass sie auf einer digitalen Grundlage bisherige Angebote sinnvoll ergänzen können. Es entstehen neue Geschäftsmodelle, neue Wettbewerber und neue Märkte ebenso wie neue Konkurrenzen und neue Allianzen.
2020 wurde die Transformation durch die Pandemie sowie die neuen EU-Klimaziele zusätzlich herausgefordert.
Die Corona-Pandemie trifft die Automobilwirtschaft in ganz Deutschland hart. Die zur weltweiten Bekämpfung des Virus notwendigen Maßnahmen fordern unsere Automobilbauer und viele Zulieferer in unvorhersehbarer Weise heraus. Zahlreiche Unternehmen mussten ihre Produktion, insbesondere wegen gerissener Lieferketten, zwischenzeitlich drosseln und befinden sich auch aktuell noch in Kurzarbeit. Viele kleinere Betriebe kämpfen ums Überleben, die Beschäftigten fürchten den Verlust ihrer Arbeitsplätze.
Zur Bewältigung dieses Strukturwandels haben die Niedersächsische Landesregierung, die IG Metall und der Verband der Metallindustriellen Niedersachsen den Strategiedialog Automobilwirtschaft initiiert. Als wichtige industrielle Partner agieren die Volkswagen AG und die Continental AG. Der Strategiedialog hat zur Aufgabe, die Systemtransformation vorausschauend zu begleiten und zu gestalten, Innovationspotenziale niedersächsischer Unternehmen zu nutzen sowie Beschäftigung und Arbeitsplätze zu sichern. Ziel ist es, die Stärke des Industriestandorts Niedersachsen zu erhalten und auszubauen.
Dazu hat die Landesregierung im vergangenen Jahr zunächst 410 Mio. EUR und anschließend weitere 150 Mio. EUR für eine niederschwellige Investitions- und Innovationsförderung angesetzt, die insbesondere Automobilzulieferern zugutekommen soll. Diese Summe allein entspricht mehr als 10 Prozent der Bruttoanlageinvestitionen in der niedersächsischen Industrie 2018. Zudem sollen davon 30 Mio. EUR in einen Transformationsfonds fließen. All diese Maßnahmen helfen, die hohe Wettbewerbsfähigkeit der Automobilwirtschaft zu verstetigen.
Fünf Agenda-Punkte
Der Strukturwandel ist schwierig, aber zu schaffen. Einen Strukturbruch aber gilt es zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund habe ich mit Blick auf die Klimapolitik der EU jedoch die Sorge, dass hier zum wiederholten Male der Fehler gemacht wird, sehr ambitionierte Ziele festzulegen, ohne einen konkreten Plan für die Umsetzung zu haben. Wir kennen noch nicht mal die Auswirkungen auf die Industrie bei der Erhöhung des CO2-Reduktionszieles für 2030 für PKW und LKW. Daher sehe ich noch einige Schritte vor uns. Ein paar Beispiele:
-Eine flächendeckende EU-weite Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge mit einheitlichen Bezahlstandards sowie EU-weite Wasserstofftankstellen mit Fokus auf den Nutzfahrzeugbereich
-Massive Investitionen in die sozial-ökologische Transformation, z. B. durch Ausweitung der Fördermöglichkeiten über den IPCEI-Rahmen hinaus
-Ergänzung der Investitionspolitik der EU durch ein europäisches Instrument staatlicher Investitionsförderung
-Märkte für CO2-arm hergestellten Stahl oder Zement schaffen, etwa durch Anrechnung der Verwendung grünen Stahls bei der Fahrzeugproduktion auf die CO2-Flottenwerte
-Die Anwendung synthetischer Kraftstoffe auf bestehende EU-Flottengrenzwerte: Während Großbritannien synthetische Kraftstoffe bereits in der Gesetzgebung verankert hat, wartet Deutschland noch auf die Vorgaben aus Brüssel zur Umsetzung der novellierten EEG-Richtlinie (RED II).
Just Transition
Auch hier müssen wir uns für eine konstruktive und effektive Industriepolitik zugunsten einer „Just Transition“ einsetzen, also eines sozialgerechten Umbaus. Die Säulen Klimaschutz, Sozialverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit müssen gleichwertig nebeneinanderstehen und gemeinsam gedacht werden. Daher bedarf es einer klaren Verbindung der Klimaziele mit einer europäisch ausgestalteten Sozial-, Arbeitsmarkt-, Innovations-, Raumordnungs-, Struktur– und Industriepolitik.
Das vergangene Jahr lehrt, dass sich langfristige industriepolitische Aufgaben früher stellen können als zunächst gedacht. Umso wichtiger sind Dialog und Abstimmung statt isoliertem Agieren. Die Europäische Union, Bund und Länder müssen darin noch besser werden. Die Transformation in der Automobilwirtschaft lässt uns wenig Zeit. Im Ergebnis werden wir aber neue Maßstäbe in der Industriepolitik setzen, die schließlich auch der übrigen Industrie sowie der Gesamtwirtschaft zugutekommen werden.
Gelingt das, werden wir auch die E-Autos von heute in einigen Jahrzehnten als Teil einer wichtigen Industrietradition in unseren Automuseen betrachten können und staunen über die Wandlungsfähigkeit der Branche und ihrer Produkte.
Stephan Weil