Die Frage, wie wir in Deutschland unsere wirtschaftliche Basis sichern und wieder Wachstum schaffen können, ist von zentraler Bedeutung. Auch wenn wir im Vergleich zu den europäischen Nachbarstaaten bisher recht gut durch die Corona-Krise gekommen sind, so stecken wir doch in der schwersten Rezession der Nachkriegsgeschichte.
Die Mehrheit der Wirtschaftsforscher geht davon aus, dass das Vorkrisenniveau erst im Jahr 2022 wieder erreicht wird. Das bedeutet in der Konsequenz, dass uns der Wertschöpfungszuwachs von fast zwei Jahren fehlen wird – ein erheblicher Wohlstandsverlust, den die Wirtschaft, der Staat und die Arbeitnehmerschaft spüren werden beziehungsweise bereits heute spüren. Die Gewinne der Unternehmen, sofern sie welche erwirtschaften, werden geringer ausfallen, die Löhne werden weniger stark steigen, der Staat wird weniger an Steuern und Abgaben einnehmen und vor allem sind Hunderttausende von Arbeitsplätzen in Gefahr.
Das, was konjunkturpolitisch durch Bund und Länder gemacht wird, ist richtig. Damit wird der hoffentlich zeitlich nicht so lange anhaltende Ausfall an privater Nachfrage durch staatliche Nachfrage, die kreditfinanziert ist, teilweise ersetzt. Das ist in der aktuellen Lage notwendig. Und wir sind in Deutschland in der Lage dies zu finanzieren. Es sei angemerkt – das ist auch Folge des Reformprogrammes Agenda 2010, das dazu geführt hat, dass unser Land wirtschaftlich und damit auch finanziell und sozial besser aufgestellt ist als andere Staaten.
Allerdings sollten wir uns in Deutschland bereits heute Gedanken darüber machen, was den zeitlich befristeten konjunkturellen Maßnahmen folgen soll. Denn klar ist: wenn wir zwei Jahre an Wohlstandsverlusten zu verzeichnen haben, benötigen wir künftig ein kräftiges Wachstum, um aus der Krise zu kommen.
Daher benötigen wir ein Zukunftsprogramm, um die Arbeitsproduktivität, die im Übrigen schon seit mehreren Jahren sinkt, wieder zu steigern. Dazu müssen wir das Arbeitsangebot verbessern, also angesichts der demographischen Entwicklung mehr Menschen in Arbeit bringen. Und der Staat muss dafür sorgen, dass private Investitionen attraktiver werden, damit unsere Wirtschaft modernisiert und international konkurrenzfähig bleibt.
Das ist, weil ich meine parteipolitische Herkunft nicht verschweigen will, ein sozialdemokratischer Ansatz. Soziale Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft ist nur dann realisierbar, wenn die wirtschaftliche Basis stimmt. Umgekehrt gilt auch, dass eine Volkswirtschaft nur dann langfristig erfolgreich sein kann, wenn sie auf einer sozial gerechten und solidarischen Gesellschaft beruht.
Insofern war auch die Agenda 2010 Ausdruck von ökonomischer und sozialer Vernunft. Die Reformen haben sowohl die Gesellschaft auf den demographischen Wandel eingestellt als auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft erhöht. Sie haben Arbeitsplätze gesichert und neue geschaffen. Und sie haben den Sozialstaat stabilisiert. All diese Maßnahmen haben dazu beigetragen, dass die konjunkturellen Aufschwünge im Vergleich zu früheren Jahren beschäftigungsintensiver waren.
Reformpolitik ist auch heute notwendig. Sie muss nicht so schmerzhaft sein wie die Agenda 2010, aber sie muss konsequent und zukunftsorientiert sein. Der demographische Wandel wird weiter voranschreiten. Die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter wird in den nächsten drei Jahrzehnten um ein Drittel zurückgehen. Das hat Auswirkungen auf das wirtschaftliche Wachstum und die Finanzierbarkeit der Sozialsysteme. Der globale Wettbewerb wird sich beschleunigen. Die Schwellenländer werden technologisch weiter aufholen.
Das bedeutet für Deutschland, dass wir uns nicht ausruhen dürfen – und schon gar nicht auf Erfolgen der Vergangenheit und auf Kosten der nachfolgenden Generationen. Und die Konsequenz daraus heißt, dass man die Realität nicht ausblenden darf, sondern dass man die Politik auf die neuen Realitäten einstellt. Es ist nicht meine Aufgabe als jemand, der nicht mehr in politischer Verantwortung steht, konkrete Reformprogramme zu formulieren. Aber fünf Punkte, die mir wichtig erscheinen, will ich nennen:
Erstens: In der Rentenpolitik wird es um eine Flexibilisierung des Renteneintritts gehen müssen. Denjenigen, die die Altersgrenze überschreiten, sollte erlaubt sein, freiwillig länger zu arbeiten, ohne dass sie dafür negative Konsequenzen zu fürchten haben.
Zweitens: Stärkere öffentliche Investitionen sind notwendig, vor allem in die Verkehrsinfrastruktur und die Bildungspolitik – von der frühkindlichen Betreuung bis hin zu den Universitäten. Mit der Agenda 2010 war das erste Ganztagsschulprogramm in Deutschland verbunden. Das gilt es auszubauen, um die Bildungsqualität zu erhöhen und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermöglichen.
Drittens geht es darum, Forschung und Entwicklung zu stärken. Die deutsche Volkswirtschaft benötigt eine leistungsfähigere Forschungs- und Innovationspolitik. Hier liegt auch der Schlüssel für mehr Klimaschutz und die Transformation zu einer Produktion und einer Lebensweise, die mit geringeren CO2-Emissionen verbunden sind. Das Ziel muss sein, den Industriestandort Deutschland zu sichern.
Viertens brauchen wir eine neue Dynamik bei Unternehmensgründungen. Gerade im Bereich der Digitalisierung spielen Start-ups eine herausragende Rolle. Aber solche jungen Unternehmen brauchen Kapital – und es ist in Deutschland notwendig, sogenanntes „Wagniskapital“ besser zu mobilisieren.
Und fünftens sollten wir darüber nachdenken, wie private Investitionen und Wertschöpfung in Deutschland attraktiver gemacht werden könnten. Die Unternehmensbesteuerung sollte so gestaltet werden, dass sie international wettbewerbsfähig ist. Ich plädiere nicht für einen Wettlauf um die niedrigsten Steuersätze. Aber es ist nun einmal die Realität, dass die Unternehmensbesteuerung in Deutschland im europäischen Vergleich an der Spitze liegt.
Deutschland braucht ein mutiges Zukunftsprogramm, wenn es als innovativer, nachhaltiger und sozial gerechter Wirtschaftsstandort im globalen Wettbewerb bestehen will. Dies gilt umso mehr, als sich China bereits technologisch von uns abgesetzt hat und die USA sich mehr als Konkurrent denn als Partner verstehen. Noch ist unser Land die viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt. Aber die Zeiten sind dynamischer als je zuvor. Stillstand können wir uns nicht leisten.
Gerhard Schröder