Selten zuvor waren die Defizite der Digitalisierung in Deutschland so offensichtlich wie in der Corona-Pandemie. Die mangelnde Digitalisierung des Gesundheitssektors, eine schwache Datenlage bei der Erfassung der Infektionszahlen und unzureichende Evaluation beispielsweise zur Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen trafen und treffen bei nahezu allen Beteiligten auf Unverständnis – allerdings, ohne dass sich daraus inzwischen ein fundamentales Handlungskonzept entwickelt hätte, wie unsere Gesellschaft zukünftig die Fortschrittspotenziale von Big Data nicht zuletzt im Gesundheitssektor nutzen will.
Dabei ist unbestritten, dass die Flut an Daten, die in unser aller Alltag gesammelt werden, zu besseren und genaueren Analysen führen und – insbesondere im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz – für wichtige gesellschaftliche Ziele genutzt werden können. Datengestützte Diagnosemöglichkeiten und Präventionsprogramme, Diagnose- und Therapieunterstützung sind hier als Mehrwert von Big Data ebenso zu nennen wie der Einsatz von Ambient Assisted Living-Technologien im Bereich der Pflege. Damit können nicht nur die Effizienz und der Komfort medizinischer Produkte und Leistungen gesteigert werden, sondern vor allem auch deren Qualität.
Dennoch bleibt der Umgang mit dem Thema schwierig. Bei Gesundheitsdaten handelt es sich um personenbezogene Daten, die nach Art. 4 Nr. 15 der Europäischen Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO) besonders schutzbedürftig sind. Gerade die sensiblen Personendaten sind aber in einem hohen Detaillierungsgrad notwendig, um die Bürger in der Gesundheit unterstützen zu können und ihnen Mehrwerte zu bieten. Das ist das Spannungsfeld, in dem sich die widerstreitenden Kräfte bislang weitgehend neutralisiert haben.
Zugleich verhalten sich die Nutzer von digitalen Geräten und Services nicht zuletzt in punkto ihrer Gesundheitsdaten paradox: In neueren Studien (Knorre et al. 2020) zeigt sich, dass Einstellungen und Verhalten der Nutzer stark auseinanderklaffen. Selbst die schlimmsten, vom Big Brother-Narrativ gespeisten Befürchtungen halten kaum davon ab, datengetriebene Dienste in Anspruch zu nehmen, wenn sie denn als nützlich empfunden werden. Interessanterweise gilt das ziemlich unabhängig vom digitalen Wissen und von der Einstellung zum Datenschutz. Der Nutzer als Bürger ist skeptisch, schutzsuchend und kulturpessimistisch, als Verbraucher ist er sorglos, bequem und pragmatisch.
Das lässt sich beispielsweise auch an der ‚Quantified Self‘-Bewegung zeigen, die sich nahezu altersunabhängig durch breite Bevölkerungsgruppen zieht. Dieser Trend, zu dem neben der Selbstvermessung auch die Selbstoptimierung gehört, hat bedeutende Auswirkungen auf den Umgang mit Daten im Kontext der eigenen Gesundheit. Vielfältige Alltagshelfer und Tracking- und Selbstoptimierungssysteme, die beim Aufzeichnen des eigenen Lebensstils helfen, sorgen für einen unaufhörlichen Strom an Gesundheitsdaten. Umso drängender stellt sich die Frage, wo und unter welchen Bedingungen diese Daten gespeichert werden und wer sie nutzen kann. Denn diese Massendaten nur für den individuellen gesundheitlichen Nutzen einzusetzen, wäre zu kurz gesprungen. Es geht darum, Big Data und Künstliche Intelligenz für gesundheitspolitische Ziele und den medizinischen Fortschritt insgesamt zu nutzen.
Das sehen im Übrigen auch die Nutzer so. Die Zustimmung zu Big Data und die Bereitschaft, eigene Daten zu übermitteln bzw. zu spenden, überwiegt, wenn sich damit ein konkreter Nutzen für das Gemeinwohl verbindet (Knorre et al. 2020). Das erstreckt sich vom erwähnten medizinischen Fortschritt bis hin zu Sicherheitsfragen, einschließlich Kriminalitätsbekämpfung und Verkehrsüberwachung. Im Bereich der Gesundheit fällt die Zustimmung insgesamt sogar noch etwas höher aus. Das zeigt, dass die Chancen von Big Data sehr wohl gesehen werden, und zwar weit über die persönliche Nutzenperspektive hinaus.
Allerdings wird diese Zustimmung immer von Transparenz und Nachvollziehbarkeit abhängig gemacht, zumindest aber von Plausibilitäten, mit denen der Nutzen jeweils erklärt wird (Gatzert et al.2022). Die Zukunft liegt deshalb in einem Denkansatz, der davon ausgeht, den Nutzer weniger als hilfsbedürftiges Schutzobjekt zu betrachten, sondern als Datensouverän, der seine Daten einer sicheren, vielleicht sogar öffentlichen Dateninfrastruktur zur Verfügung stellt.
Die Ideen der Open-Data-Bewegung dazu sind ebenso faszinierend wie praktisch umsetzbar, wie dies beispielsweise offene Datenbestände aus öffentlichen Verwaltungen oder Forschungseinrichtungen aller Art zeigen. Eine Infrastruktur, mit der öffentliche Massendaten nach definierten Regeln geteilt werden oder sogar geteilt werden müssen und für deren Sicherheit und Qualität dann sogar ein öffentlicher Auftrag bestehen kann, ist dank gesetzlicher Grundlage ein in diesem Zusammenhang konkretes Zielbild, an dessen Fertigstellung allerdings noch massiv gearbeitet werden muss.
Erste Projekte außerhalb der öffentlichen Daten wie zum Beispiel der Mobilitätsdatenraum (Mobility Data Space MDS) mit seiner dezentralen Architektur des Datenteilens zeigen, dass es vernünftige technische und rechtliche Lösungen für solche Datenräume gibt, von denen letztlich auch alle Marktteilnehmer profitieren. Der MDS zeigt aber ebenso wie das europäische Gaia-X-Projekt zugleich, dass es ohne anhaltende politische Unterstützung insbesondere durch Regierungshandeln nicht geht. Das gilt sicher auch für das Projekt einer dezentralen Forschungsdateninfrastruktur im Gesundheitswesen, wie sie der aktuelle Koalitionsvertrag vorsieht. Hierfür wird man die bisherigen Erfahrungen mit dem Aufbau von Dateninfrastrukturen sorgfältig auswerten, was vielleicht sogar der Vorteil einer späten Projektierung ist.
Für viele Unternehmen ändern sich in diesem Zusammenhang die Erwartungen, die ihre Stakeholder an sie richten. Compliance mit den Datenschutzgesetzen gilt zunehmend als klassischer Hygienefaktor, der nur bemerkt wird, wenn er fehlt. Zustimmung und Vertrauen schafft dagegen nur eine Geschäftsstrategie, die die Chancen von Big Data bzw. Künstlicher Intelligenz proaktiv im wohlverstandenen Eigeninteresse nutzt. Schon jetzt lässt sich dabei sagen, dass Unternehmen, deren Umgang mit Daten auf klaren ethischen Handlungsgrundsätzen beruht, die Gewinner der Big Data-Debatte sein werden. Corporate Digital Responsibility ist eine unverzichtbare Dimension der verantwortungsvollen Unternehmensführung. So ist das Vertrauen der Stakeholder die eigentliche Währung der digitalen Gesundheitswirtschaft.
Um diese marktwirtschaftliche Dynamik zu entfalten, braucht es wiederum regulatorische Rahmenbedingungen, mit denen die Chancen und Risiken von Big Data wirkungsvoll ausbalanciert werden. Als solche sind zum einen spezifische Datennutzungsgesetze zu nennen, wie das ebenfalls im Koalitionsvertrag geplante Gesundheitsdatennutzungsgesetz. Zum anderen geht es um allgemeine gesetzliche Experimentierklauseln, die den Weg für so genannte Reallabore beispielsweise auf kommunaler Ebene eröffnen. Ein allgemeines Reallaborgesetz bzw. eine generelle gesetzliche Experimentierklausel in allen Fachgesetzen, die für datenbasierte Lösungen relevant sind, sind lang diskutierte Optionen, die rasch umgesetzt werden können.
Big Data sowohl aus öffentlicher als auch privater Hand bieten ungeahnte Chancen, die gravierendsten Probleme der Welt nachhaltig, d.h. vor allem auf globaler Reichweite, zu lösen. Das beginnt bei Klimaschutz, geht über Gesundheit und Ernährung bis hin zu Bildung. Unter welchen Rahmenbedingungen Big Data wie genutzt wird, ist jedoch Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen den Stakeholdern, die dabei jeweils ihren eigenen Logiken folgen. Politik im Allgemeinen und des Gesetzgebers im Besonderen hat hier die Aufgabe, die Rolle des Treibers einzunehmen, weil sich ansonsten andere Stakeholder gegenseitig blockieren.
Das gelingt umso besser, wie der Nutzen von Big Data genauso populär wird wie bislang das Thema des Datenschutzes. In diesem Sinne kann und muss neben Politik und Wirtschaft die Wissenschaft ihre Rolle als Erklärer technischer, sozialer und ökonomischer Zusammenhänge zu Big Data und KI noch stärker als bisher ausfüllen. Dabei kommt angesichts der Komplexität des Themenfeldes dem interdisziplinären Austausch eine wichtige Rolle bei der Entwicklung akzeptanzfähiger, nachhaltiger datengestützter Lösungen zu. Immerhin hat uns die Pandemie ja einige Impulse für wirkungsvolle Wissenschaftskommunikation gegeben. Ob Big Data seine Potenziale für einen nachhaltigen Fortschritt entfalten kann, ist nicht zuletzt eine Frage gelingender Kommunikation.
Prof. Dr. Susanne Knorre
Quellen
Knorre S, Müller-Peters H, Wagner, F (2020) Die Big-Data-Debatte. Chancen und Risiken der digital vernetzten Gesellschaft. Springer, Wiesbaden
Gatzert N, Knorre S, Müller-Peters H, Wagner F (2022) Big Data in der Mobilität. Das Grünbuch. Datenspuren der Verkehrsteilnehmer und Ansprüche der Stakeholder. https://raum-mobiler-daten.de/files/downloads/%28BIG_DATA_IN_DER_MOBILITAET_GRUENBUCH%29.pdf