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„Die Welt ist aus den Fugen geraten“, so beschrieb der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier die Weltlage im Jahr 2015. Die gewaltsamen Konflikte, die die Welt umtrieben, seien ein Ausdruck „tektonischer Verschiebungen in der Weltpolitik“ – eine Beschreibung, die heute kaum aktueller sein könnte. Die russische Invasion in der Ukraine hat eine Vielzahl an Krisen ausgelöst – eine humanitäre, eine wirtschaftliche und eben auch eine geopolitische: so kann der Krieg durch das Prisma des Ringens um eine neue Weltordnung gesehen werden[1] und diese Weltordnung, rund sechzig Tage nach dem russischen Angriff, scheint tatsächlich aus den Fugen geraten zu sein.

Wladimir Putin ist eine Art symbolischer Overlord einer globalen Bestrebung gegen

Multilateralismus, die westlich-liberale Demokratie, Meinungspluralität und einer kosmopolitischeren Zukunft geworden. Er hat unter dem Banner dieser Ideologie einen anachronistischen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Dieser Systemgegensatz, bedroht, wie Tobias Fella in der NZZ schreibt, das „auf ewig angelegte, traditionalistisch-autokratische Russland“[2]. Putin möchte die, in seinen Augen vorliegenden, historischen Ungerechtigkeiten beseitigen. Der Krieg in der Ukraine – die nach russischer Betrachtung keinen eigenen Staat darstellt – ist demnach der erste Schritt des Austarierens dieser Weltordnung, die, mag man den russischen Vorstellungen folgen, eine der Großreiche und Einflusssphären einschließlich gegenseitiger Interventionsverbote sein wird.

Die Länder Zentralasiens sind per Geografie, Historie, Entwicklungsmodelle und institutioneller Architektur im Sturmzentrum dieses geopolitischen Spannungsfeldes. Sie gehören zu den Regionen, die am meisten vom russischen Einmarsch in die Ukraine betroffen sind. Ein Blick in die Ferne lohnt sich, um einige der Reibungskonflikte der anstehenden globalen Konfliktlinien zu verstehen.

Betroffen per proxy – Institutionelle Bindungen und ihre Konsequenzen

Die beispiellosen Sanktionen des Westens wirken sich erheblich auf die russische Wirtschaft aus: über 750 Firmen – hauptsächlich westliche – haben ihre Aktivitäten in Russland entweder ausgesetzt oder gar eingestellt. Der Rubel hatte zu Beginn dramatisch an Wert verloren und die russische Wirtschaft erwartet für dieses Jahr einen signifikanten Rückgang der Wirtschaftstätigkeit. Analog dazu sind auch die Wirtschaften Zentralasiens betroffen, die bis heute stark von Russland abhängig sind. Sichtbar wurde das vor allem bei den Währungen, die mit dem Rubel steigen und fallen, aber auch bei den ganz praktischen Problemen der vielen Arbeitsmigranten aus Zentralasien, die keine Auslandsüberweisungen aus Russland in ihre Heimatländer in Zentralasien tätigen können. In Kasachstan übersetzt sich der Währungsverfall zudem in eine starke Verteuerung der Güter des täglichen Lebens. Auch die kasachischen Standardwerte spüren bereits die Folgen: die Halyk-Bank, das größte Finanzinstitut des Landes, verlor etwa 40 Prozent ihres Wertes an der Londoner Börse. Die nationale Urangesellschaft Kazatomprom verzeichnete einen Rückgang von nahezu eines Viertels ihres Wertes.

Die Gründe für die hohe Empfänglichkeit der ökonomischen Schocks aus Russland sind – neben der Vernetzung der globalen Lieferketten und starken Ressourcenabhängigkeit  – simpel: in Zentralasien existiert bis heute kein regionales Integrationsprojekt und selbst ein homogenisierter zentralasiatischer Binnenmarkt wäre in seiner Kaufkraft zu klein, um eine autonomere Wirtschaftspolitik zu gewährleisten, während sich zeitgleich geographische Hemmnisse und die schwache Konnektivität negativ auf die Ökonomien Zentralasiens auswirken. Kasachstan und Kirgisistan traten, wissentlich dieser Defizite, der russisch-dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) bei und auch die anderen Länder sind historisch stark an Russland gebunden. Die EAWU verfolgt zwar das erklärte Ziel, einen gemeinsamen Binnenmarkt zwischen den Mitgliedsstaaten zu schaffen, weist aber institutionelle und politische Hemmnisse auf. Bereits in den Anfangszeiten der Gründung waren deren wirtschaftliche Perspektiven in den jeweiligen Ländern stark umstritten: während die Regierungen die möglichen Synergieeffekte und das damit verbundene hohe Modernisierungspotential priesen, verwiesen Kritiker auf die hohe Abhängigkeit von Rohstoffexporten in Drittländer und mangelndes Innovationspotential. Im wirtschaftlich stärksten Land der Region, in Kasachstan, wurden ein Souveränitätsverlust und eine erneute Abhängigkeit von Russland befürchtet.

Multi-vektorale Außenpolitik und der Balanceakt der zentralasiatischen Länder

Hier versuchte man als Gegendynamik gezielt zwischen den Interessen der Großmächte – hier vor allem Russland und China, aber auch gegenüber Iran oder der Türkei – zu manövrieren. Auch deshalb unterhält Nur-Sultan eigenständige Projekte ohne Beteiligung Russlands oder der EAWU: so stärkten die Europäische Kommission und Kasachstan im Jahr 2019 das Bekenntnis zur Zusammenarbeit mit der Veröffentlichung einer gemeinsamen Strategie zur Vertiefung der Arbeit, später auch durch die neue EU-Zentralasienstrategie sowie der Unterzeichnung des erweiterten Partnerschafts- und Kooperationsabkommen. Auch Usbekistan orientiert sich wirtschaftlich stark gen Europa: seit Anfang 2021 ist Tashkent u.a. Teil des GSP+ Regimes. Dennoch geht der Kooperationstrend nicht unbedingt Richtung Europa, sondern gen Asien, wovon die Freihandelsabkommen der EAWU u.a. mit Vietnam, Iran, China und Singapur zeugen – denen bisher nur ein einzelnes Freihandelsabkommen mit Serbien als europäischem Land gegenübersteht.

Usbekistan hat enge Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit China aufgebaut. China ist seit mehreren Jahren der größte Handelspartner des Landes, sodass der Anteil Chinas am Außenhandelsumsatz Usbekistans im Jahr 2021 rund 18 Prozent umfasste – das ist etwas mehr als der Anteil Russlands. Auch China und Kasachstan haben eine bedeutende Wirtschaftspartnerschaft: China bezieht rund 20 Prozent seiner Gasimporte aus oder über Kasachstan. Das zentralasiatische Land ist zudem ein Dreh- und Angelpunkt in der Belt and Road Initiative und das, zumal es in der Lage war, Größe und Umfang der chinesischen Wirtschaftstätigkeit im eigenen Land so zu gestalten, dass sie mit der nationalen Entwicklungsstrategie kompatibel waren: das nationale Investitionsprogramm Nurly Zhol soll die Modernisierung der Infrastruktur – unter anderem durch die Modernisierung von Straßen, Eisenbahnen und Häfen – vorantreiben und Kasachstan so zu einem wichtigen eurasischen Transport- und Logistikzentrum machen. Es steht so in Einklang mit den chinesischen Bestrebungen zum Auf- und Ausbau interkontinentaler Handels- und Infrastruktur-Netze.

Die institutionellen Verstrebungen, wie die Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion, ziehen Effekte nach sich, die Kasachstan nicht oder nur schwer eigenständig gestalten kann, allerdings versucht das Land erfolgreich einen eigenen Handlungsrahmen aufrechtzuerhalten. Diese Bereitschaft wurde auch im Nachgang des Kriegsbeginns erneuert und ist auch im Kontext der aktuellen politischen Reformen zu sehen. Der stellvertretender Außenminister Kasachstans, Timur Suleimenov, hat in einem Interview sehr deutlich gemacht, dass Kasachstan sich nicht „im selben Korb wie Russland“ sehen wolle, eine Diversifizierung der Exportrouten anstrebe und die territoriale Integrität der Ukraine anerkenne.[3] Die Entwicklungsmodelle, ökonomischen Ressourcen und sozialen Realitäten in den Ländern Zentralasiens weisen einen unterschiedlichen Status-quo sowie unterschiedliche Dynamiken auf. Am Beispiel Kasachstans wird jedoch exemplarisch der Balanceakt deutlich, den die Staaten zwischen ihren wirtschaftlichen und historischen Verstrebungen mit Russland, der chinesischen Neuen Seidenstraße und der Kooperation mit der EU nehmen müssen.

Die aktuelle Konfliktsituation leitet im eurasischen Raum eine Phase der Hinterfragung und der Neuordnung der Sicherheits- und Wirtschaftsarchitektur ein. Die Eurasische Wirtschaftsunion ist durch die Sanktionen stark beschädigt. Ihr Sinn wird erneut infrage gestellt. Sicherheitspolitisch bindet die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) einige Länder Zentralasiens an Russland – dessen Interessen man in der aktuellen Lage zu großen Teilen jedoch nicht teilt. Die Länder müssen ihre institutionellen Bindungen in den Bereichen Sicherheit und Wirtschaft neu sortieren. Das bietet auch Chancen für Deutschland und Europa, um entlang der globalen Konfliktlinien Partner zu stärken, die im Kontext der eingangs gezeichneten „neuen Weltordnung“ ansonsten Gefahr laufen als Teil einer historisch begründeten Einflusssphäre betrachtet zu werden.

Die Einbindung der Länder Zentralasiens und die Schaffung von Anreizsystemen

Die Optionen hin zu mehr Unabhängigkeit liegen auf dem Tisch: bereits an anderer Stelle argumentierte ich, dass die Länder Zentralasiens ihre bisherigen institutionellen Verflechtungen – allen voran jene mit Russland – überdenken müssen.[4] Hierbei sind die weitere Vertiefung der regionalen Integration sowie die verstärkte Zusammenarbeit mit den Nachbarländern in Zentralasien erste Schritte. Gleichzeitig gilt es, den Blick nach innen zu richten: in nahezu allen Ländern Zentralasiens – wenn auch auf unterschiedlichen Niveaustufen – schwelt in der Bevölkerung Unmut gegenüber weitverbreiteter Korruption, sozialer Ungleichheit und politische Systeme, die über Jahrzehnte Verteilungskartelle im Staats- und Privatsektor, sowie eine institutionelle Architektur der Selbstbereicherung und den Machterhalt der Eliten ermöglichte.

In Kasachstan wird deutlich, dass die von der damaligen Regierung geförderte, auf Fossilextraktion basierte Trickle-Down-Ökonomie in der Folge immer weniger funktioniert und die hieraus resultierenden sozio-ökonomischen Missstände die Demonstrationen im Januar angestoßen haben – so also die Stabilität des Landes direkt gefährdeten. Es ist also auch im Eigeninteresse dieser Länder, ihre Wirtschaftsarchitektur anders aufzustellen und eine einseitige außenpolitische Anbindung weiterhin abzulehnen.

Wie die Länder Zentralasiens sich in die globalen Energie-, Produktions-, Distributions- und Finanzsysteme der Zukunft eingliedern werden, hängt aber auch von Anreizsystemen der Partner ab und ob jene eine Loslösung von Russland ermöglichen. Die notwendigen politischen Reformen sowie die wirtschaftliche Transformation lassen sich nur erfolgreich gestalten, wenn außenpolitische Anreize der europäischen Partner zu ebd. Initiativen beitragen, denn: die Reformrückstände der politischen Systeme und wirtschaftlichen Diversifizierungsprobleme der Länder Zentralasiens und ihre außen- und wirtschaftspolitischen Abhängigkeiten sind eng verknüpft. Ansonsten ist es vorstellbar, dass China mittelfristig die Eurasische Wirtschaftsunion – und somit auch Teile Zentralasiens – in die chinesische geoökonomische Ordnung eingliedern wird, was Peking helfen wird seinen Einflussbereich auf das kontinentale Eurasien auszudehnen, für die Länder Zentralasiens aber ein klarer Verlust der eigenen Gestaltungsfähigkeit bedeuten würde. Die Vorboten hiervon sind bereits heute in Bischkek sichtbar.

Das Ringen um eine neue Weltordnung hat begonnen. Um im Sinne der „Zeitenwende“ in der Zukunft geopolitische Interessen durchsetzen zu können, muss ein souveränes Europa eine gemeinsame politische Linie entwickeln, die außenpolitisch die aktive Unterstützung von Partnern priorisiert. Die Länder Zentralasiens könnten hier, obwohl aus dem Erbe der Sowjetunion geboren, eine wichtige Rolle spielen.

Christoph P. Mohr

 

[1] Saxer, Marc: Die Rückkehr der Geoökonomie. https://www.blog-bpoe.com/2022/04/11/saxergeooekonomie/?fbclid=IwAR0RcShGN09yERwMpDHv9E_7TTJLQ5x22teouC2Bruw1djiE5AV5VYGn0G8

[2] Fella, Tobias: Deutsch-russisches Verhältnis: «Feind» zu sagen, hat auch Vorteile.  https://www.nzz.ch/meinung/deutsch-russisches-verhaeltnis-feind-zu-sagen-hat-vorteile-ld.1680392

[3] https://www.euractiv.com/section/central-asia/interview/kazakh-official-we-will-not-risk-being-placed-in-the-same-basket-as-russia/

[4] Mohr, Christoph, P.: Zwischen den Stühlen. https://www.ipg-journal.de/regionen/asien/artikel/zwischen-den-stuehlen-5806/