31.05.2022Geopolitik

Die politische Zeitenwende ist auch eine ökonomische Zeitenwende – Deutschland und Europa brauchen jetzt eine ökonomische und soziale Resilienzstrategie

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Der 24.02.2022 hat die Welt fundamental verändert. Politisch und geopolitisch, denn mit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine kommt die lange Zeit stabile Nachkriegsordnung und postkommunistische Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa zu einem Ende. Wie eine neue Ordnung in Europa aussehen kann, ist derzeit mitten in diesem Krieg, dessen Ende nicht absehbar ist, nicht zu prognostizieren. Nur eines ist sicher: Einen status quo ante wird es nicht geben. Auf absehbare Zeit lautet die Frage nicht mehr, wie kann in Europa Sicherheit mit Russland gewährleistet werden, sondern wie sieht eine neue Politik der Sicherheit vor Russland aus.

Diese politische Zeitenwende hat nicht nur eine geopolitische Dimension, sondern sie leitet auch eine ökonomische Zeitenwende ein. Diese ökonomische Zeitenwende wird geprägt sein von einer Kumulation unterschiedlicher Krisen und Krisensymptomen. Wir erleben krisenhafte Entwicklungen, die das Potential haben, sich wechselseitig zu verstärken und die zu Neujustierungen im Bereich der Wirtschafts-, Finanz-, Handels-, Energie- und Industriepolitik führen müssen und werden.

Am offensichtlichsten und dominierend ist die gegenwärtige Energiekrise verbunden mit der Sorge um Versorgungssicherheit, steigenden Preisen und der Suche nach neuen Energiepartnerschaften und Energiequellen, um die Abhängigkeit von russischem Gas und Erdöl zu reduzieren, mit dem Ziel sich von russischen Importen gänzlich unabhängig zu machen.

Die Energiekrise ist gleichzeitig Katalysator und Brennglas weiterer Krisenphänomene. Unsichere Ressourcenversorgung, unsichere Lieferketten, massive Preissteigerungen und eine global inflationäre Entwicklung und eine sich weltweit abzeichnende Nahrungsmittelknappheit mit verheerenden Konsequenzen für Entwicklungs- und Schwellenländer.

Gleichzeitig ist die Wirtschaft und die Welt mit der Notwendigkeit und der Herausforderung der Transformation zu mehr Nachhaltigkeit und einer umfassenden Notwendigkeit zur Dekarbonisierung energetischer, industrieller Prozesse konfrontiert. Und das in einer Situation, in der die ökonomischen Folgen des Corona-Schocks noch nicht einmal überwunden sind. Die Corona-Krise war ein Nachfrageschock für die globale Wirtschaft. Heute stehen Wirtschaft und Unternehmen vor einem in dieser Form nicht gekannten Angebotsschock.

Dieses Krisenszenario hat zudem weitreichende soziale Konsequenzen. Wir erleben nicht nur einen kräftigen Energiepreisschock, sondern auch steigende Preise bei Nahrungsmitteln und anderen Produkten des täglichen Bedarfs. Dies betrifft insbesondere untere und mittlere Einkommen, die am stärksten von der inflationären Preisentwicklung betroffen sind. Und das in einer Situation, in der die Armutsquote in Deutschland mit 16,1 Prozent in 2020 einen neuen Höchststand erreicht hat[1], legt man die Armutsdefinition von 60 Prozent des mittleren Einkommens zu Grunde.

Auf der anderen Seite erleben wir eine Refeudalisierung der Einkommens- und Reichtumsentwicklung. Trotz Corona-Krise sind Vermögen und Einkommen der ökonomischen Eliten weiter gestiegen. 2068 Milliardäre besitzen zwölf Billionen Dollar. Addiert man dazu alle Millionäre ergibt sich ein Vermögen von 165 Billionen Dollar und damit das 50-fache des deutschen Bruttoinlandsproduktes. In Deutschland besitzt das reichste Prozent von Personen 35,3 Prozent des gesamten Nettovermögens von 7,8 Billionen Euro (2017) und die zehn Prozent der Reichsten 67,3 Prozent, während die unteren 50 Prozent gerade einmal 1,3 Prozent am gesamten Nettovermögen besitzen. [2] Gleichzeitig sind die Steuersätze auf Gewinne von Kapitalgesellschaften in Deutschland seit der Jahrtausendwende um ca. 20 Prozentpunkte zurückgegangen.[3]

Die ökonomische Zeitenwende zeigt bereits erhebliche Konsequenzen. Die ökonomischen Bremsspuren sind überall erkennbar. Die Weltwirtschaft wird nach Berechnungen des IWF in 2022 zwar noch um 3,6 Prozent wachsen. Allerdings bei einer deutlichen Verlangsamung der Wachstumsdynamik in der Weltwirtschaft. Gleiches gilt für Deutschland und Europa. Die Wachstumsprognosen haben sich deutlich eingetrübt und liegen für 2022 bei 2,1 Prozent in Deutschland und in der Eurozone bei 2,8 Prozent.[4] Eine Reihe von Ökonomen warnen bereits vor einer drohenden Dekade der Stagflation, also schwaches Wachstum bei gleichzeitig inflationärer Entwicklung. Am Finanzmarkt scheint es nach einer Dekade Wachstums und großen Renditen auch erstmal zu einer Kurskorrektur zu kommen.

Mit der politischen Zeitenwende hat auch eine Diskussion über die bisherige Form der Globalisierung und der internationalen Arbeitsteilung begonnen. Auf der diesjährigen Tagung des World Economic Forum, also einer Institution, die immer zu den Verfechtern der Globalisierung gehört hat, waren skeptische Töne bis hin zu einer Notwendigkeit der Deglobalisierung zu hören. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg formulierte auf dem Jahrestreffen: „Freiheit ist wichtiger als Freihandel.“ Wer wollte dem widersprechen.

In der Konsequenz allerdings heißt dies: Die bisherige Form der unternehmens- und kapitalgetriebenen Globalisierung muss zumindest eingehegt werden. Denn die bisherige Form der Globalisierung orientierte sich nicht an geo-, demokratie- oder menschenrechtspolitischen Grundsätzen, sondern ausschließlich an der Frage von Wachstums- und Kostenindikatoren und der Präsenz auf strategischen Schlüssel- und Wachstumsmärkten. Wie eine neue Form des Multilateralismus, der ökonomischen Kooperation und der internationalen Arbeitsteilung angesichts des Ukraine-Schocks aussehen kann, bleibt damit unklar und vage. Werte sind wichtig, sie sind aber schon häufig an ökonomischen Paradigmen und Realitäten zerschellt. Zudem stellt sich die Frage: Wie schnell lassen sich internationale Arbeitsteilung, globaler Handel und globale Ressourcennutzung überhaupt zurückführen oder gar substituieren?

Vor diesem Hintergrund beginnt ein neues Paradigma Einzug in die politische Debatte einzuhalten. Resilienz wird zunehmend zu einem Thema, nicht nur von Regierungen, sondern auch von Unternehmen, die in der aktuellen Situation mit der Fragilität von Energie- und Ressourcenversorgung und der in den letzten Jahrzehnten entstandenen globalen Lieferketten konfrontiert sind. Überall laufen die Planungen für mehr Diversifizierung der Energie- und Ressourcenversorgung auf Hochtouren, bestehende Lieferketten müssen angepasst, neue Handels- und Kooperationspartner gefunden werden und ein Prozess des Reshorings wird überall diskutiert und entsprechende Projekte entwickelt und geplant.

Bislang verläuft dieser Prozess allerdings krisengetrieben und aktionistisch, jeder ist sich selbst der Nächste. Über eine wirkliche Resilienzstrategie verfügen weder Unternehmen noch Regierungen.

Dafür notwendig wäre eine breit angelegte Resilienzevaluation, die Ressourcen, Handel, Branchen und Technologien und die jeweiligen Abhängigkeiten, Klumpenrisiken und notwendige technologische Souveränitätscluster und Produktionsstrukturen in den Blick nimmt. Eine solche integrierte Resilienzevaluation ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, um eine Resilienzstrategie und einen entsprechenden Transformationsprozess für mehr Standortresilienz einzuleiten.

Dies gilt gerade für Deutschland und Europa, denn die Abhängigkeit beim Thema Energieversorgung ist nur die Spitze des Eisberges. Europa und Deutschland sind ressourcenarm, zulieferabhängig bei bestimmten Vorprodukten, technologieabhängig in wichtigen Feldern, absatz- umsatz und profitabhängig von bestimmten Märkten.

Wer über europäische Souveränität redet, muss eine Resilienzstrategie entwickeln und ein entsprechendes Transformationsprogramm auf den Weg bringen. Das ist kein Plädoyer für das Ende der Globalisierung, sondern ein Plädoyer für mehr Sicherheit in der Globalisierung und damit die Voraussetzung dafür, eine werteorientierte Außen- und Sicherheitspolitik und einer damit verbundenen Wirtschafts-, Handels- und Industriepolitik zu entwickeln. Der bisherige Status Quo bildet das allerdings nicht ab. Das ist eine besondere Herausforderung für das deutsche Geschäftsmodell.

Wie komplex diese Aufgabe ist, verdeutlicht ein kleines Beispiel. Dass es in Deutschland zu einem beschleunigten massiven Ausbau der Erneuerbaren Energie kommen muss, um zum Beispiel Energieabhängigkeit zu reduzieren, darüber besteht ein breiter gesellschaftlicher politischer und ökonomischer Konsens. Die Neue Zürcher Zeitung verweist in einem Artikel unter der Überschrift „Deutschland stolpert in die nächste Falle“ darauf hin, dass dieser Ausbau massiv abhängig ist von chinesischen Windrotoren und Solarmodulproduzenten. Und dies ist nur ein Beispiel von vielen. So kann Europa nur sechs Prozent seiner notwendigen Chip-Versorgung aus europäischer Produktion sicherstellen. Diese Liste ließe sich leicht verlängern.

Eine Resilienzstrategie kann in Europa niemand allein entwickeln oder aber realisieren. Neben einer geopolitischen Neupositionierung brauchen Deutschland und Europa eine abgestimmte, ambitionierte kohärente Resilienzstrategie in deren Zentrum eine neue Investitions-, Industrie- und Handelspolitik stehen muss. Um dies erfolgreich zu bewältigen, müssen staatliche und private Initiativen, Investitionen und Transformationsmaßnahmen aufeinander abgestimmt werden.

Was es braucht, ist ein koordiniertes und kooperatives Bündnis aller politischen und wirtschaftlichen Akteure, die sich über umfassende Maßnahmen zur Resilienz verständigen. Diese dürfen aber keine reinen Ziel- und Wunschkataloge sein, die ähnlich wie die Klimaziele als freischwebende Ziele eine Debatte ohne konkrete Maßnahmen bestimmen. Es muss zeitnah zu konkreten Maßnahmen und politischer Umsetzung dieser Resilienz kommen – inklusive möglicher Neugründung von staatlichen oder halbstaatlichen Institutionen. Eine Resilienzstrategie darf keine Absicht sein, sondern muss zeitnah ein Programm werden.

Dazu sind folgende Maßnahmen dringlich:

Erstens: Ein Programm zur umfassenden Resilienzevaluation mit einem integrierten Ansatz mit dem Blick auf Handelsschwerpunkte, Branchen-, Umsatz- und Investitionsschwerpunkte und Technologiefelder und -schwerpunkte.

Zweitens: Der Staat muss eine Pionierfunktion in der Transformation einnehmen. Dazu ist eine aktive Investitions- und Industriepolitik erforderlich, die private Investitionen anreizt und unterstützt und gemeinsam mit den Unternehmen ein industriepolitisches Kernprogramm für mehr Wettbewerbsfähigkeit, Resilienz und Souveränität definiert.

Drittens: Es ist richtig, dass die Europäische Kommission die Stabilitätskriterien auch für das Jahr 2023 ausgesetzt hat. Eine deutsche Antwort auf diese Frage steht aus und ist überfällig.

Viertens: In Deutschland und Europa brauchen wir eine Qualifizierungsoffensive. Allein in Deutschland sind ca. 1,8 Millionen Jobs im Bereich qualifizierter Fachkräfte unbesetzt. Eine Resilienz- und Transformationsstrategie kann ohne ausreichenden Fachkräftebedarf nicht aufgehen.

Fünftens: Die Geldpolitik muss das Inflationsrisiko im Auge behalten, eine Zinswende wäre jedoch sowohl konjunkturell wie investitionspolitisch der falsche Weg.

Sechstens: Einen Transformationsimpuls für Wirtschaft und Industrie auf den Weg bringen. Zum Beispiel durch verbesserte Verlustrückträge, die Möglichkeit zu Sofortabschreibungen und die Umwidmung von Mitteln aus dem Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds.

Siebtens: Die ökonomische Zeitenwende muss auch ein Programm für den sozialen Ausgleich beinhalten, eine ökonomische Resilienzstrategie muss um eine soziale Resilienzstrategie ergänzt werden. Bisherige Maßnahmen waren weder zielgenau noch verteilungsgerecht. Untere Einkommen brauchen gezielte Transfers- und Kompensationsleistungen, vordringlich ist dabei, die schnelle Anpassung von Regelleistungen an die reale Preisentwicklung und gezielte Familien- und Kinderkomponenten.

Achtens: Joe Biden hat in den USA eine Billionaire Mininum Income Tax auf den Weg gebracht. Wer über 100 Millionen Dollar besitzt, soll verpflichtet werden, auf den jährlichen Wertzuwachs seiner Finanzen und Unternehmenswerte Steuern zu zahlen. Und die britische Regierung will die Einführung der Abschöpfung von Windfall Profits in der Krise auf den Weg bringen. Entsprechende Maßnahmen müssen auch für Deutschland umsetzungsorientiert geprüft werden.

Matthias Machnig

 

[1] https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Schwerpunkte/Armutsbericht/doc/broschuere_armutsbericht-2021_web.pdf

[2] https://www.econstor.eu/bitstream/10419/229426/1/20-29-1.pdf

[3] OECD.Stat (2021), Tax database.

[4] International Monetary Fund: World Economic Outlook, April 2022: War Sets Back The Global Recovery