Infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine werden derzeit vorrangig die exorbitanten Preisentwicklungen auf dem Gas- und Strommarkt betrachtet. Dabei darf eine weitere Konsequenz nicht aus dem Blick geraten: Das Einbrechen von Lieferketten in der Grundstoff- und Rohstoffversorgung und die daraus resultierenden Produktionsausfälle in der Industrie. Es braucht kurzfristige und entschiedene Maßnahmen, um eine Wirtschaftskrise historischen Ausmaßes und das Massensterben inländischer Unternehmen zu verhindern.
Der Blick in die Geschichte zeigt: Große Wirtschaftskrisen verlangen große Antworten. Das galt für die Stagflationskrise der 1970er Jahre, die Weltwirtschaftskrise 2008 und die Coronakrise 2020. In der derzeitigen Lage, in der die größte Krise der Nachkriegszeit droht, gilt dies umso mehr. Denn die wirtschaftlichen Folgen des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russland auf die Ukraine treffen die deutsche Volkswirtschaft in ihrer Substanz. Ganze Industriezweige drohen, irreversibel verloren zu gehen. Da aber weder eine kurzfristige Befriedung des Krieges noch ein Ende der europäischen Wirtschaftssanktionen gegen Russland absehbar sind, braucht es eine strukturelle Antwort, um den Industriestandort nachhaltig zu schützen.
Denn leider steht zu befürchten, dass die derzeit zu beobachtenden Ausläufer der Krise nur ein Vorgeschmack dessen sind, was noch kommen wird. Immer zahlreicher werden die Meldungen von Unternehmen, die ihre Produktion nicht (mehr nur) wegen der hohen Energiepreise, sondern deswegen einstellen (müssen), weil Vorprodukte und Grundstoffe nicht geliefert werden können oder die Einkaufspreise jegliche betriebswirtschaftliche Legitimation verloren haben. Andere Unternehmen, insbesondere diejenigen in energie- und rohstoffintensiven Industriesektoren, kürzen ihre Produktion drastisch, um Gas und Strom zu sparen.
Am Beispiel der Chemiebranche wird deutlich, dass die unterbrochenen Lieferketten zum Fallstrick für die gesamte deutsche Wirtschaft werden können. Ammoniak etwa ist unverzichtbar für die Herstellung vieler Dünge- und Lösemittel, Kunststoffe und medizinischer Produkte. Auch als Kältemittel für den Betrieb von Kühlhäusern oder die Herstellung von AdBlue, dem Zusatzmittel zur Abgasreinigung von Dieselmotoren, ist dieser Grundstoff unverzichtbar. Gleiches gilt für den Einsatz von Acetylen in der Kunststoffindustrie oder in der Herstellung von Produkten wie etwa Gummireifen. Auch Schläuche oder Dichtungen, Schaumstoffe oder Wärmedämmungen, Lacke und Farben sind auf entsprechende Basischemikalien angewiesen. Klar ist daher: Produktionsstopps in der grundstoffverarbeitenden Industrie wirken sich mittelbar auf das produzierende Gewerbe aus und haben strukturelle Konsequenzen auf die Volkswirtschaft. Ein ähnliches Beispiel, welches bereits infolge der Corona-Pandemie zu beobachten war, stellt die Chipindustrie dar: Fehlende Halbleiterprodukte, die nur einen Bruchteil der gesamten Wertschöpfung in der Automobilproduktion ausmachen, können weite Teile der Automobilindustrie lahmlegen. Die Aufzählung der beklagten Knappheiten aber kann beliebig fortgesetzt werden: Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlensäure, Salzsäure oder Fällmittel für Kläranlagen.
Die sich zunehmend abzeichnende Mangellage in den Grundstoffen und Vorprodukten birgt die erhebliche Gefahr von Kaskadeneffekten und Kollateralschäden. Welches Ausmaß unterbrochene Lieferketten erreichen können, wissen wir spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie und erleben wir aktuell immer noch. Die Risiken akkumulieren sich in bedrohlicher Geschwindigkeit. Es steht die konkrete Gefahr im Raum, dass diese Entwicklung mit dem Verlagern von Produktionsstrukturen einhergeht, was wiederum wirtschaftlichen Wohlstand kostet und das Wachstumspotenzial vermindert.
Wie dem nun begegnen? Tatsache ist, dass ein Gas-Embargo, wie teilweise zu Beginn des Krieges gefordert, unkalkulierbare Folgen für Industrie, Mittelstand und Familienunternehmen gehabt hätte. Das besonnene Handeln zu dem damaligen Zeitpunkt hat Zeit verschafft für weitere Überlegungen und konkrete Maßnahmen. Vieles hat die – in dieser Konstellation ja immer noch junge – Bundesregierung auf den Weg gebracht, um die Abhängigkeit von russischen Energieimporten zu reduzieren, den schnelleren Hochlauf der erneuerbaren Energien anzureizen und die enormen Belastungen der Verbraucherinnen und Verbraucher zu dämpfen. Dennoch ist die jetzige Lage, wie sie ist – mehr als angespannt. Weitere Maßnahmen sind somit unabdingbar. Und sie müssen besonders schnell kommen, weil die Wirtschaft spätestens jetzt und quasi heute die Entscheidung darüber trifft, wie Standorte betrieben und Produktionen im Jahr 2023 gefahren werden.
Sofern sich die Unternehmen über die Verfügbarkeit von Energie an den Standorten sorgen, hat dies mehrere Facetten: Wird es genug Gasmengen geben, um die Produktion aufrecht zu erhalten? Kann ein Brennstoffwechsel die erforderliche Stabilität bringen und wird er schnell behördlich bestätigt? Wird das Gasnetz am Standort im Falle einer Gasmangellage nebst zentraler Generalsteuerung der Bundesnetzagentur überhaupt technisch stabil bleiben? Eine Frage, die sich im Grunde gleichermaßen für das Stromnetz stellt, wenn die Bevölkerung ihr Bezugsverhalten ändern würde. Zentral sind natürlich zudem die rasant steigenden Preise – für Gas originär, für Strom wegen der Einbeziehung des überhitzten Gaspreises in die Preisbildung an der gesamtmarktprägenden Börse. Sind Gas und Strom nicht mehr bezahlbar und/oder bereits so „aus dem Markt“, dass die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft nicht mehr gegeben ist, ergeben sich die beschriebenen Effekte des Produktionsrückganges oder gar der Schließung bereits faktisch. Und schließlich geht es auch um das Margining, also den drastisch erhöhten Bedarf an Liquidität bzw. anderen Sicherungsinstrumenten.
Die gute Nachricht ist, dass all diesen Sorgen begegnet werden kann. Dass es Antworten gibt, die die Lieferketten stabilisieren und das oben beschriebene Szenario vermeiden können. Sie müssen nun schnell in die Umsetzbarkeit gebracht werden. Manche mehr, als es jetzt angelegt ist.
Wir brauchen Gasmengen; die alternative Beschaffung läuft bereits. Auch der Bau der LNG-Anlagen ist angeschoben. Das wird in den nächsten Jahren Einfluss auf den Marktpreis für Gas haben. Aber uns muss klar sein: Sofort wird er nicht sinken; dafür bräuchte es einen Preis-Deckel bzw. eine Gaspreisbremse unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Kostenstrukturen. Entsprechend klar ist weiter: Solange wird auch der (vom Gaspreis getriebene) Strompreis hoch bleiben, wenn wir nicht eine weitere Lösung finden. Von daher ist es richtig, wenn intensiv darüber nachgedacht wird, wie man den Strompreis vom überhitzten Gaspreis befreien kann. Dafür braucht es aber mehr Mut zu einer (temporären) Anpassung der Funktionsweise des Strommarktes, als es die angedachte Umverteilung von Zufallsgewinnen bedeuten. Denn die Abschöpfung erfolgt erst nach der Preisbildung; der Kunde (vom Haushalt bis zur energieintensiven Industrie) bezahlt zunächst den vollen Preis und muss dann – nach einer Umverteilung der Zufallsgewinne – darauf hoffen, in ausreichendem Maße entlastet zu werden. Ein struktureller (auch! Industrie-)Strompreisdeckel wäre die kurzfristig teurere Alternative – aber langfristig besser als die gegenwärtige Situation, in der die Lieferketten zu reißen drohen.
Verwaltungsseitig braucht es jetzt ein der Krise angemessenes Maß an Pragmatismus, beispielsweise in der Umsetzung der bereits erleichterten Vorschriften des Brennstoffwechsels. Es ist nicht einzusehen, dass einige Behörden in dieser Lage für einen „fuel switch“ eine Genehmigung und mehrere Monate aufrufen, wenn andere eine Anzeige genügen lassen (können) und sogar aktiv den Wechsel dulden. Gleiches gilt für den Umgang mit umweltschutzrechtlichen Vorschriften. Entsprechende Ausnahmeregelungen, die beispielsweise durch eine nachweisbare AdBlue-Knappheit als einziges Hemmnis im Produktionsprozess begründet würden, könnte eine temporäre Maßnahme zur Aufrechterhaltung der Produktion darstellen.
Weiteres ist möglich und nötig. Die schnelle Einführung eines Insolvenzmoratoriums, wie es während der Hochphase der Corona-Pandemie eingerichtet wurde, zum Beispiel. Oder Liquiditätshilfen für das Margining, wie sie für eine Uniper von der KfW bereits geleistet wurden.
Zu guter Letzt braucht es neben alledem das marktwirksame Signal, das den Unternehmen in Industrie und Mittelstand die dringend benötigte finanzielle Sicherheit und Planbarkeit gibt. Statt iterativer Nachbesserungen sollte ein Schutzschirm für Unternehmen und Betriebe dabei gleich in der Anlage so weitreichend konzipiert werden, dass der ikonische Satz von Bundeskanzler Olaf Scholz mit Leben gefüllt wird: „You’ll never walk alone.“ Deutschland und Europa sind stark genug, um auf diese Krise historischen Ausmaßes eine große Antwort zu geben. „Whatever it takes“ – das muss jetzt der Maßstab sein.
Prof. Dr. Ines Zenke