Fortschritt braucht Aufbruch – Für eine Neujustierung der Wirtschafts-, Industrie- und Außenwirtschaftspolitik

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Die zwanziger Jahre werden Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland und in Europa vor enorme Herausforderungen stellen, denn das Land ist mit einer Koinzidenz dreier zentraler, grundlegender ökonomischer Entwicklungen konfrontiert: Der Druck auf die Standortqualität und seine Rahmenbedingungen, die Erfordernisse der digitalen und nachhaltigen Transformation der Industriegesellschaft und fundamentale geoökonomische Veränderungen, die zu einer Politisierung der Außenwirtschafts- und der Handelspolitik und dem bisher etablierten Modell der internationalen Arbeitsteilung in der Globalisierung führen wird.

Das Geschäftsmodell Deutschland, also die Kombination von einem hohen Anteil industrieller Wertschöpfung, einer hohen Exportquote, aufbauend auf kalkulierbaren Rahmenbedingungen, hoher Wettbewerbsfähigkeit und qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, ist in der Krise. Die Standortqualität Deutschlands im internationalen Vergleich ist rückläufig, die Investitions- und Innovationsentwicklung ist schwach bei gleichzeitig wachsendem Kostendruck angesichts von deutlich gestiegenen Energiepreisen, inflationären Preissteigerungen und eines dramatisch wachsenden Fachkräftemangels, der dazu führt, dass Wachstumspotentiale nicht gehoben werden können.

Gleichzeitig wächst der Transformationsdruck, Dekarbonisierung und Digitalisierung sind die wesentlichen Treiber. Dies ist verbunden mit einem enormen Innovations- und Investitionsbedarf auf und in diesen Transformationsfeldern und wird zu einem tiefgreifenden Strukturwandel der Volkswirtschaft führen.

Das Exportland Deutschland ist darüber hinaus mit Veränderungen der geoökonomischen Tektonik konfrontiert, die zu einer Politisierung der Globalisierung führen wird. Es besteht die Gefahr neuer geopolitischer Blockbildungen, einer sich verschärfenden Systemkonkurrenz zwischen den USA und China mit enormen Rückwirkungen auf die Weltwirtschaft, existierende Wertschöpfungs- und Logistikketten und damit auf die internationale Arbeitsteilung. Sanktionen, Protektionismus, Local-Content-Bestimmungen, politische Vorgaben für private Auslandsinvestitionen etc.. Der Diversifizierungsdruck, sowohl für Exporte wie Importe und Auslandsinvestitionen, wird zunehmen. Für ein Land wie Deutschland mit globalen Wertschöpfungsketten und einem hohen Exportanteil stellt das eine enorme Herausforderung dar.

Die Koinzidenz dieser drei grundlegenden Veränderungen muss im Zentrum der Wirtschafts- und Finanzpolitik in den nächsten Jahren stehen. Denn diese Veränderungen korrespondieren miteinander und können und dürfen nicht isoliert betrachtet werden. Es muss um ein integriertes Politikkonzept gehen, das den Standort stärkt, die Transformation bei Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit voranbringt und eine Außenwirtschaftspolitik betreibt, die De-Risking und Diversifizierung ermöglicht, aber ein De-Coupling verhindert. Eine solche integrierte Politik ist weit mehr als Klima- und Energiepolitik. Diese kann nur dann gelingen, wenn der Standort stark und die internationale Arbeitsteilung und die Präsenz auf zentralen globalen Märkten für die deutsche Wirtschaft gesichert bleibt.

Über diese zentralen Fragen existiert allerdings bislang kein wirklicher Konsens, weder in der Gesellschaft noch in der gegenwärtigen Bundesregierung. Denn die Fortschrittskoalition ist sich in zentralen Fragen der Standortpolitik, der Transformationspolitik oder aber der Geoökonomie nicht einig. Das Regierungshandeln ist gekennzeichnet von Malefiz, also der wechselseitigen Selbstblockade auf diesen zentralen Feldern.

Das hat nicht nur koalitionspolitische Gründe, sondern liegt vor allen Dingen auch daran, dass die eingesetzten standort-, transformations-, und geopolitischen Instrumente nicht wirklich auf ihre ökonomisch-sozialen Konsequenzen und im Hinblick auf die Frage evaluiert werden, wie eine integrierte ausbalancierte Politik im Hinblick auf die genannten Herausforderungen strukturiert und umgesetzt werden muss.

Die bisherige Politik konzentriert sich vor allen Dingen auf zwei wesentliche Elemente: die CO2-Bepreisung über den europäischen Emissionshandel und rigide regulatorisch-rechtliche Vorgaben für Transformationsmaßnahmen in den jeweiligen Sektoren wie Energie, Industrie, Verkehr, Landwirtschaft und Gebäudesektor. Der Emissionshandel, der heilige Gral der Klimapolitik, soll über eine Verteuerung der CO2-Zertifikate Anreize setzen, um klimagerechtes Produzieren und Verhalten zu befördern. Die Realität zeigt jedoch, dass dieses Instrument nur einen begrenzten Beitrag dazu leistet, notwendige Transformationsinvestitionen auf den Weg zu bringen. Die Kombination von CO2-Bepreisung und Regulatorik wird nicht ausreichen. Ohne staatliche Investitionsförderung, ohne gezielte Differenzkostenförderung, ohne wettbewerbsfähige Energiepreise und entsprechend sozialem Ausgleich sind Wohlstand und Transformation gefährdet.

Hinzu kommt eine regulatorische Dichte bis hin zur Detailsteuerung, die vor allem zu einem führt: zu hohem bürokratischen Aufwand auf Seiten der Unternehmen und auch der staatlichen Instanzen. Das führt unter anderem dazu, dass selbst der Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland nur schleppend vorankommt, sodass die selbstgesteckten Erneuerbaren-Ziele mit 85 Prozent im Jahre 2030 gefährdet sind. Weitere Beispiele dafür sind die Energiepreisbremsen, die von vielen Unternehmen angesichts des hohen bürokratischen Aufwandes und rechtlicher Unsicherheiten im Hinblick auf Rückzahlungsforderungen gar nicht erst in Anspruch genommen werden. Das Gebäudeenergieeffizienzgesetz (GEG), das sich gegenwärtig in der Beratung im Parlament befindet, hat vor allem für eines gesorgt: Unklarheit und Unsicherheit auf Seiten derjenigen, die dieses Gesetz betrifft, also Eigentümer, Wohnungsgesellschaften, Mieterinnen und Mieter. Diese Beispiele ließen sich beliebig verlängern.

Vor allen Dingen unterschätzt die Politik, dass es nicht nur klimapolitische Kippunkte geben könnte, sondern auch ökonomische, soziale und demokratiepolitische Kippunkte bei einer falsch angelegten Transformationspolitik auftreten können.

Ökonomisch erlebt Deutschland gerade, dass der Standort und das Geschäftsmodell D massiv unter Druck geraten. Die Produktivitätssteigerungen sind dürftig, die Investitionen in den Standort schwach und die Neigung, Investitionen außerhalb Deutschlands und Europas auf wichtigen Transformationsfeldern zu realisieren, ist deutlich gestiegen. Kernbereiche, ins- besondere in den energieintensiven Unternehmen, die eine wichtige Rolle für integrierte industrielle Wertschöpfungsketten in Deutschland spielen, stehen massiv unter Druck mit entsprechenden Konsequenzen für regionale strukturpolitische Entwicklungen.

Angesichts von Reallohnverlusten durch die hohe Inflation, einem nach wie vor großen Niedriglohnsektor in Deutschland, steigenden Preisen selbst bei Grundnahrungsmitteln und Miet- und Energiekosten, wachsen in Teilen der Bevölkerung Befürchtungen, durch bestimmte Maßnahmen einer gut gemeinten Klimapolitik schlicht überfordert zu werden. Die Ankündigung von Entlastungsmaßnahmen korrespondiert in der Regel nicht mit realen, spürbaren Entlastungen.

Aber die Transformation braucht ganz wesentlich Akzeptanz und auch das sichere Gefühl bei den Menschen, diese Aufgabe auch persönlich finanziell bewältigen zu können. Das erfordert eine Politik mit Augenmaß und eine Politik, die ihre Maßnahmen erklären kann, um so Zustimmung und Bereitschaft, sich auch persönlich klimafreundlich zu verhalten, zu realisieren. Wer das nicht tut, gefährdet den gesellschaftlichen Konsens und den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Ein Paradebeispiel dafür, wie man eine Gesellschaft spalten kann, erlebt gerade Frankreich, in der eine Rentenreform ohne Mehrheit im Parlament und nur durch einen besonderen Artikel in der französischen Verfassung durchgepeitscht werden konnte. Die politischen Kosten dieses Manövers können weitreichende Folgen haben.

Die notwendige Transformationspolitik in Deutschland kann und wird nur gelingen, wenn sie gleichzeitig mit einer Politik zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes verbunden wird. Dazu bedarf es eines weitreichenden Instrumentenmixes: Einer investitionsorientierten Finanzpolitik, der Stärkung der Investitionsrahmenbedingungen, einer europäisch-koordinierten Industriepolitik, wettbewerbsfähiger Industriestrompreise, einer umfassenden Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung, massiver Anstrengungen bei der Digitalisierung von Produktion und öffentlicher Verwaltung, einer Fachkräfteoffensive und einer offensiven Außenhandelspolitik z. B. mit neuen Allianzen im Bereich der Energie- und Rohstoffversorgung.

Investitionsorientierte Finanzpolitik: Die öffentlichen Investitionen haben in den letzten Jahren wieder zugelegt, doch bei Weitem nicht stark genug, um den Rückgang und die Versäumnisse der Vergangenheit wettzumachen. Daher sollten die öffentlichen Investitionen des Bundes, der Länder und der Kommunen im Rahmen der Schuldenbremse anders behandelt werden. Sie sind keine konsumtiven Ausgaben, sondern eine wichtige Voraussetzung, um Wettbewerbsfähigkeit und Transformation zu ermöglichen. Verbesserte Rahmenbedingungen für private Investitionen: Private Investitionen sind der Schlüssel für die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes. Es müssen jetzt klare Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit Unternehmen ihre Investitionspläne auf den Weg bringen können. Die Superabschreibungen müssen bis spätestens zum 01.01.2024 rechtlich verbindlich geregelt sein. Auch die bisherigen Regelungen für Höhe und Zeitraum von Verlustrückträgen müssen so ausgestaltet werden, dass die Investitionsmöglichkeiten von Unternehmen verbessert und gestärkt werden.

Europäische Standort- und Industriepolitik: Europa braucht eine konsistente Antwort auf den IRA. Der IRA hat offengelegt, dass die bisherigen Instrumente der europäischen Transformations-, Investitions- und Industriepolitik zu geringe ökonomische Hebel besitzen, mit langwierigen Abstimmungs- und Genehmigungsverfahren verbunden sind und damit die Transformation und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft nicht in dem notwendigen Umfang und der notwendigen Geschwindigkeit voranbringen.

Um die notwendigen finanz-, investitions- und industriepolitischen Leitplanken der EU zu schärfen, braucht es eine Reform der europäischen Fiskalregeln und des europäischen Beihilferechts und eine Verständigung auf zentrale industriepolitische Felder zur Sicherung der Resilienz und Souveränität Europas.

Um den Net-Zero Vorschlag der Kommission weiter zu konkretisieren und finanziell zu unterfüttern, sollte ein europäischer Souveränitätsfonds mit einem Volumen von 1% des EU-BIPs bis 2030 pro Jahr eingerichtet, Produktionsziele in Schlüsselbereichen definiert und staatliche Finanzierung in großem Umfang in bestimmten Sektoren ermöglicht werden. Das erfordert mehr Flexibilität bei den Beihilferegelungen. Um das politisch durchsetzen zu können, muss der europäische Souveränitätsfonds mit frischem Geld ausgestattet werden.

Wettbewerbsfähiger Industriestrompreis: Die Transformation braucht Industrie, ohne sie keine Windräder, keine Solaranlagen, keine Halbleiter, kein die Transformation unterstützender Maschinen- und Anlagenbau etc.. Transformation und industrielle Wertschöpfung sind kein Widerspruch, im Gegenteil, sie bedingen einander. Um den Strukturwandel zu ermöglichen und Strukturbrüche und neue Abhängigkeiten zu vermeiden, müssen wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen für die Industrie geschaffen werden. Dazu gehört ganz wesentlich, einen beihilferechtlich abgrenzbaren und damit sektorspezifischen Industriestrompreis von maximal 7c/KWh zum Jahre 2024 einzuführen. Darüber hinaus müssen auch Entscheidungen über ein neues Strommarktdesign getroffen werden, das den notwendigen Zubau von 20-25 GW gesicherter Leistung in Form von H2-ready Gaskraftwerken ermöglicht.

Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung ist aktive Standortpolitik und gehört ganz oben auf die Agenda, um den Standort Deutschland zu modernisieren und zukunftsfähig zu machen. Der Streit in der Koalition zu diesem Thema muss endlich beendet werden. Dabei darf es keine Denkverbote geben und es müssen Anpassungen im Verwaltungs- und Verfahrensrecht sowie im Umweltrecht etc. vorgenommen werden. Das gilt insbesondere im Hinblick auf den Ausbau der Erneuerbaren Energien, die Übertragungs- und Verteilnetze, den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft und -infrastruktur, sowie für Mobilitätsprojekte und industrielle Transformationsprojekte. Bürokratische Prozesse müssen neu interpretiert werden. Der bloße Technikeinsatz macht noch keine Digitalisierung – schlechte Prozesse werden auch digital nicht besser. Die Schaffung von Schnittstellen und übergreifenden Standards und die Ende-zu-Ende-Digitalisierung sind wesentliche Voraussetzungen für eine moderne Verwaltung und damit einem agilen und handlungsfähigen Staat; dieser muss seine Vorreiterrolle und Vorbildfunktion als Leitanwender der Digitalisierung erfüllen. Die geplante OZG-Reform muss diese Aspekte zwingend berücksichtigen.

Fachkräfteoffensive: Die Fachkräftelücke ist größer als je zuvor. Im Jahr 2022 hatten erstmals mehr als 2,5 Millionen Menschen unter 34 Jahren keinen Berufsabschluss. Der Mangel an Fach- und Arbeitskräften ist eine entscheidende Wachstums-, Wettbewerbsfähigkeits- und Transformationsbremse und wird sich ohne gezielte Maßnahmen weiter verschärfen.

Um das Erwerbspersonenpotenzial langfristig zu stabilisieren, müssen vorhandene Personalreserven kurzfristig mobilisiert werden – vor allem bei Frauen, durch den Ausbau von Kinderbetreuungsangeboten und flexible, familienkompatible Arbeitszeiten, bei älteren Menschen, durch flexible Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten für Personal im Rentenalter, und durch die Ausweitung der Arbeitszeiten von Beschäftigten mit Verlängerungswünschen. Zudem muss die Bleibebereitschaft von ausländischen Fachkräften steigen. Um die Integration von Zugewanderten zu verbessern, braucht es eine erleichterte Anerkennung von Kompetenzen, gezielte berufsbegleitende Qualifizierung und Sprachförderung und klare Perspektiven für Aufenthaltsrecht und Familiennachzug oder -mitzug.

Neue Allianzen durch eine offensive Handelsvertragspolitik und Rohstoffpartnerschaften: Deutschland und Europa werden die Herausforderungen nicht ohne internationale Partnerschaften und neue Allianzen bewältigen können in einer Welt, in der sich die geopolitische Architektur massiv verändert. Es braucht eine offensive Handelsvertragspolitik der EU und eine Stärkung der Rohstoffpartnerschaften, die auf der einen Seite unsere Abhängigkeiten diversifizieren, auf der anderen Seite aber auch die Kooperationskanäle zu den anderen Regionen der Welt offenhalten. Die Nachhaltigkeitsziele werden mit Blockbildungen und Autarkie nicht zu bewältigen sein, das muss der Politik und der Gesellschaft bewusst werden. Langfristig sollte die Bundesregierung auf eine Reform der multilateralen Handelsinstitutionen hinarbeiten, um bessere Bedingungen für den Freihandel zu schaffen.

Wer die vor uns liegenden Herausforderungen und Aufgaben bewältigen will, muss neue Antworten wagen. Die Kontroversen und Standpunkte von gestern sind keine Lösungen für morgen.

Matthias Machnig 

 

Der Text ist ein Auszug aus dem neuen Sammelband des Wirtschaftsforums der SPD e.V. „Futurenomics – Zukunft des Geschäftsmodells und des Standorts Deutschland und Europa“, der am 10.7 erscheint.

Mit dem Buch präsentieren wir in unserer wirtschaftspolitischen Schriftenreihe nach den Bänden »Postcoronomics – Neue Ideen für Markt, Staat und Unternehmen« und »Transfornomics – Zur ökonomischen Zeitenwende« jetzt Debattenbeiträge, die der Frage nachgehen, welche wirtschafts-, energie- und industriepolitischen Antworten es in den nächsten Jahren braucht, um die digitale und nachhaltige Transformation voranzubringen, Wohlstand und Wertschöpfung zu wahren und zukunftsfähig zu machen und den sozialen Zusammenhalt zu sichern.

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