09.08.2023Beitrag

Umbruchwut: Der alltägliche Ärger und die Bereitschaft zum Wandel

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Die Wut im Land steigt. Umfragen zeigen, dass immer breitere Schichten der Bevölkerung eine ausgeprägte Abneigung gegen die politischen Parteien entwickeln, mit Ausnahme der AfD. Alles scheint in die falsche Richtung zu laufen. Diese Gefühle sind Ausdruck des weit verbreiteten Eindrucks, dass es die „da oben“ einfach nicht können. Die müssen weg, hört man vielerorten. So drastisch drücken sich nicht nur notorische Modernisierungsverweigerer aus, sondern durchaus auch Menschen aus der veränderungsbereiten politischen Mitte. Extremismus schleicht sich in die Mitte der Gesellschaft ein. Erschreckende Folge ist eine AfD im Umfragehoch.

Woher kommt die Wut? Ist es das Heizungsgesetz, sind es die enervierenden  Streitereien der Ampel? Aber warum profitiert dann nicht wie in früheren Zeiten die Opposition von der Schwäche der Regierung? Und warum gewinnen dann im europäischen Ausland ohne Ampelregierungen gleichfalls Rechtspopulisten an Einfluss?

Die Gründe für die weitverbreitete Abkehr vom so wahrgenommenen politischen  Establishment dürften tiefer als in einer vermeintlich schlechten Regierungspolitik in Deutschland liegen. Allen Ländern gemeinsam ist, dass sie in einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbruchzeit leben. Digitalisierung, Migration, aufbrechende Geschlechtermodelle oder der Klimawandel betreffen alle mehr oder minder stark und sorgen für Ängste und Unsicherheit.

Auch ist vor allem die im Vergleich zur Vergangenheit grundlegend veränderte Informationsverbreitung zu nennen. Wir leben derzeit informationstechnisch in einer Art  neuen Mittelalters mit digitaler Technologie. Politische Information verbreiten sich heute vielfach nicht mehr über journalistischen Standards genügenden Kanälen sondern über digitale Medien, wo mittels Gerüchten, unbelegten Behauptungen, irrationalen Überlegungen oder gezielten Desinformationen ein nahezu undurchschaubares Gemisch von Wahrheiten und Lügen entsteht. Befördert wird dies durch Algorithmen, die negativen Emotionen ein größeres Gewicht als positiven in der Verbreitung einräumen, da sie mehr Klicks provozieren und damit mehr Werbekunden erzeugen. Im Ergebnis entsteht häufig nicht nur schlechte, sondern schlicht falsche Information; ein furchtbarer Nährboden für Unsicherheit, Angst und Radikalisierung. Verstärkt wird diese Tendenz fatalerweise durch journalistisch arbeitende Medien, die z.B. in Talkshows die Grenzen zwischen politischer Information und Politshow verschwimmen lassen. FOX News in den USA kann hierfür als erschreckendes  Beispiel dienen.

Vor diesem generell düsteren Hintergrund kommt in Deutschland noch ein spezielles Problem hinzu, das politisch vielfach unterschätzt wird: der alltägliche Ärger. Sucht man eine Wohnung, ein bestimmtes Medikament oder einen Arzt, will man die Bahn nutzen, einen Platz für die Kinder in Schule und Kita oder für die Pflege der Eltern finden, droht Ungemach. Mangel oder mangelnde Funktionalität sind hier Alltag. Jeder und jede ist damit konfrontiert, denn alle müssen wohnen, zur Arbeit kommen, wollen gesund sein sowie Kinder und Eltern gut versorgt wissen. Alle sind darauf angewiesen, dass diese Dinge möglichst reibungslos funktionieren, soll der Alltag nicht von Beschwernissen und Sorgen beherrscht werden. Dies gilt insbesondere für jene Menschen, die diese systemischen Schwächen nicht mit eigener finanzieller Stärke wenigstens teilweise ausgleichen können. Zu recht werden Wohnen, die Gesundheits-, Verkehrs- und Bildungssysteme denn auch als fundamentale Güter oder Daseinsvorsorge bezeichnet, was ihre Bedeutsamkeit unterstreicht.

Diese Güter sind in den vergangenen Jahrzehnten sträflich vernachlässigt worden. Zum einen sind dringend benötigte öffentliche Investitionen, z.B. bei der Bahn unterblieben. Das gewerkschaftsnahe IMK und das arbeitgebernahe IW bezifferten gemeinsam den Bedarf noch vor der Pandemie auf über 400 Mrd. €. Zum zweiten wurde durch den Zugang von am Gewinn orientierten Unternehmen z.B. im Gesundheitsbereich die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) des Systems in Krisenzeiten geschwächt. Das Vorhalten von Puffern und Reserven kostet schließlich Geld. Daher wurde es soweit als möglich vermieden. Im Ergebnis haben die jüngsten Krisen die Schwachstellen unserer Daseinsvorsorge erbarmungslos offen gelegt.

Der alltägliche Ärger über mangelhafte Leistungen, deren reibungslose Bereitstellung  eigentlich selbstverständlich sein sollte, zehrt an der Bereitschaft weitere Belastungen zu tragen. Wenn dann noch der Eindruck entsteht, dass ein neues und umstrittenes Gesetz eine Welle zusätzlicher Belastungen mit sich bringt, ist das Maß für viele voll oder sogar übergelaufen. Sie flüchten in eine resignative Haltung oder blinden und wütenden Protest. In Zeiten abnehmender Parteibindung lassen sich dabei viele auch von extremistischen Inhalten offenkundig nicht abschrecken. Vor allem aber leidet die gesellschaftliche Akzeptanz, sich den wirtschaftspolitischen Herausforderungen unserer Zeit zu stellen. Man erstarrt in fossiler Nostalgie.

Dieses düstere Bild enthält jedoch wichtige Hinweise für einen sinnvollen Strategiewechsel im Transformationsprozess. Will man den notwendigen Wandel mit dessen notwendiger Akzeptanz verbinden, muss vor allem eine Ära forcierter Investitionen anbrechen. Diese müssen einen doppelten Schub bewirken. Der erste  sollte die Güter der Daseinsvorsorge durchgreifend verbessern. Das bedeutet aber, die Investitionen in den Wohnungsbau, Verkehrs-, Gesundheits- und Bildungssystem müssen steigen und dürfen nicht fallen. Hier ist vor allem der Staat auf seinen Gebietskörperschaften in der Pflicht. Die öffentlichen Investitionen müssen für die kommenden Jahre strukturell erhöht werden, um einen stetigen Modernisierungsprozess in der Daseinsvorsorge zu erzeugen. Dieser wird im Laufe der Zeit für alle spürbar werden. Das dürfte zu einer erheblichen politischen Entspannung beitragen. Nur wenn der tägliche Ärger aufhört, wird die Bereitschaft erstarken, sich wieder weitreichenden Veränderungen zu stellen. Einige Gesetze wie die Krankenhausreform sind bereits in diese Richtung unterwegs.

Die Frage nach der Finanzierung liegt nahe. Will man die Schuldenbremse einhalten, bleiben nur Umschichtungen, Steuererhöhungen oder Sondervermögen als Ausweg. Umschichtungen sind allerdings nur begrenzt möglich, da ansonsten z.B. das Rentensystem destabilisiert wird, was den politischen Effekt dieser Strategie sofort zerstören würde. Steuererhöhungen und Sondervermögen wären ökonomisch zu rechtfertigen, noch besser wäre die politisch deutlich schwierigere Öffnung der Schuldenbremse für Investitionen. Damit könnte die Transparenz der Finanzierung merklich gesteigert werden.

Der zweite Schub sollte helfen, den Klimawandel zu bewältigen. Anders als bisher sollten aber nicht mehr finanzielle Bestrafungen und kurzfristige Verbote im Vordergrund stehen. Vielmehr sollten positive Anreize einen Investitionsschub auslösen. Diese müssen durch längerfristige Verbote ergänzt und unterstützt werden. Diese Kombination verleiht privaten Investoren mehr Sicherheit und sie sind eher bereit ins Risiko zu gehen. Der überarbeitete Entwurf des „Heizungsgesetzes“ schlägt diesen Weg ein.

Dies muss noch konsequenter und klarer durchgehalten werden. Daher geht der Vorschlag des Bundesfinanzministers, Unternehmen eine Investitionsprämie für Investitionen in transformative Technologien zu geben, in die richtige Richtung. Allerdings ist der Betrag von 6 Mrd. € viel zu gering, um irgend eine nennenswerte Investitionswelle auszulösen. Hier wäre eine wesentlich größere Summe erforderlich, um wirklich ein grünes Wirtschaftswunder auszulösen.

Der starke Schub ist notwendig, weil einem solchen Wunder zunächst ein großes und zu wenig beachtetes Hindernis im Wege steht: die Abschreibungen auf die bestehenden fossilen Technologien.  Da sie durch den forcierten Umbau obsolet werden, belasten sie die Bilanzen der Unternehmen und mindern damit zunächst deren Spielraum für neue Investitionen. Je schneller der Umstieg erfolgen soll, desto höher fallen die Abschreibungen aus und desto stärker muss umgekehrt der Anschub sein, um eine Investitionswelle auszulösen.

Hinzu kommt, dass die Geldpolitik mit ihren Zinserhöhungen die Investitionsaktivität zusätzlich bremst. Damit bremst sie aber auch den notwendigen Umbau der Wirtschaft  und verhindert den Aufbau von Kapazitäten, der den Preisdruck und folglich die Inflation in Zukunft mindern könnte. Vor dem Hintergrund dieser Belastungen kommt man mit den bisher avisierten Beträgen nicht weit.

Gefordert ist insgesamt ein wirtschaftspolitischer Schub für einen verstetigten und  höheren Investitionspfad. Deutschland braucht eine Ära der Investitionen, um die anstehenden Herausforderungen für die Mehrung künftigen Wohlstands nutzen zu  können.

Mit der Kombination aus einer expansiven Investitionspolitik und positiven Anreizen für die privaten Haushalte sowie einer durchgreifend verbesserten Infrastruktur werden die Bürger zu Gestaltern des Wandels und nicht zu dessen Opfer. Denn sie selbst bestimmen, wann und wie sie Geld ausgeben, um für das post-fossile Zeitalter gerüstet zu sein. Sie selbst entscheiden zudem über das Tempo ihres Umstiegs und der alltägliche Ärger über dysfunktionale fundamentale Güter verblasst. Auf diese Weise könnte die vielfach verloren gegangene Akzeptanz aktueller Politik wieder gestärkt werden. Wer mit wenig Ärger selbst gestalten kann, wird nicht wütend und läuft auch nicht fatale extremistischen Richtungen.

Prof. Dr. Gustav Horn