01.03.2021Arbeitswelt

Eine effektive Corona-App muss her

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Prof. Dr. Dirk Jörke Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Darmstadt
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Seit nunmehr einem Jahr herrscht der Ausnahmezustand. Nach einem ersten „Lockdown“ und einem anschließenden Sommer und Frühherbst der „Lockerungen“ und „Hygienekonzepte“ sitzen wir in einem nicht enden wollenden zweiten „Lockdown“ fest.

Immer mehr Unternehmen des Einzelhandels, des Hotel- und Gastronomiegewerbes, aber auch viele Kultur- und Sporteinrichtungen, mitsamt der häufig in diesen Bereich tätigen Soloselbstständigen, kämpfen ums wirtschaftliche Überleben. Die versprochenen Staatshilfen fließen stockend, auch ist zu fragen, ob diese, durch immer weitere Schuldenaufnahmen finanzierten, Unterstützungsleistungen immer weitergezahlt werden können. Zudem ist völlig ungewiss, wie sich diese zusätzlichen Staatsschulden in der Zukunft auswirken werden.

Rückkehr zur Normalität unwahrscheinlich

Ist wirklich davon auszugehen, dass – wie von manchen Ökonomen behauptet – diese in den kommenden Jahrzehnten auch bei nur schwachem Wachstum einfach abgetragen werden können? Oder wird es nach dem Ende der Pandemie in zwei, vielleicht aber auch erst in fünf Jahren zu einer Wiederauflage der „Austeritätspolitik“ kommen (müssen); nur diesmal in viel drastischerer Form?

Jedenfalls scheint die Hoffnung, das Virus durch die Durchimpfung der Bevölkerung in den kommenden Monaten besiegen und dann wieder im Herbst zur „Normalität“ zurückkehren zu können, trügerisch zu sein. Dagegen spricht nicht nur der schleppende Verlauf der Impfkampagne, sondern eben auch die rasche Verbreitung von „Mutationen“, von denen anzunehmen ist, dass sie den Impfschutz zunehmend überlisten können, wenn auch nicht die aktuellen Varianten, dann vielleicht die zukünftigen. Jedenfalls sollte man schon jetzt mit dem „worst case“ rechnen und nicht lediglich weiter „auf Sicht fahren“, wie die Corona-Politik der vergangenen Monate euphemistisch von den verantwortlichen Akteuren beschrieben wird.

Vor diesem Hintergrund erscheint es angebracht, über eine Entscheidung erneut nachzudenken, die zu Beginn der Pandemie zu überstürzt getroffen worden ist. Bei dieser Entscheidung handelt es sich um die von Datenschutzbeauftragten unter tatkräftiger Unterstützung der Bundesjustizministerin durchgesetzten ganz erheblichen Datenschutzbestimmungen bei der Corona-App.

Die in der politischen Kultur Deutschlands besonders tief verankerte Angst vor einem staatlichen Missbrauch von Bewegungsdaten hat dafür gesorgt, dass ein Instrument, welches einen wichtigen Beitrag zur Kontrolle der Pandemie und damit auch für eine erheblich schnellere Rückkehr zur „Normalität“ hätte liefern können, sich zu einem – man kann es nicht anders ausdrücken – in doppelter Hinsicht sehr kostspieligen Flopp entwickelt hat.

Würde es nicht um die Substanz des gesellschaftlichen Zusammenlebens und vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft um die Stabilität der demokratischen Ordnung gehen, könnte man das Desaster der Corona-App mit ein wenig Humor einreihen in eine inzwischen recht lange Geschichte von öffentlichen Investitionsabgründen: der Stuttgarter Hauptbahnhof, die Hamburger Elbphilharmonie, der Berliner Flughafen, die Infrastruktur für die Autobahnmaut, um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen. Doch es geht um mehr.

Gewiss, eine digitale Erfassung von personalisierten Bewegungsdaten stellt nur einen Baustein einer erfolgreicheren Strategie als immerwährende „lockdowns“ dar. Doch handelt es sich bei einer wirklich effektiven und das heißt eben gerade nicht anonymisierten Corona-App um einen ganz zentralen Schlüssel zur Eindämmung des Virus. Das zeigt ein Blick nach Ostasien, und zwar sowohl in autokratisch Staaten wie China wie demokratisch verfasste Gesellschaften wie Taiwan und Südkorea, die neben einer ernsthaften Teststrategie und, ja, einer strengen Einreisekontrolle eben auch auf die digitale Erfassung der Bewegungsprofile gesetzt haben.

Von diesen drei Bausteinen wird zumindest einer, wenn auch mit den üblichen verwaltungsbedingten Verzögerungen, absehbar auch hierzulande zur Verfügung stehen, nämlich die Massentests. Ernsthafte Einreisebeschränkungen sind zumindest innerhalb der Europäischen Union kaum vorstellbar, ganz sicher nicht in Deutschland angesichts der vielen Berufspendler und der hierzulande, beispielsweise in der Pflege und im Schlachtereigewerbe beschäftigten Wanderarbeiter. Umso wichtiger ist es aber, dass neben den Massentests nun auch in Deutschland und am besten ebenfalls in den anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union eine ernsthafte digitale Strategie verfolgt wird.

Drei Argumente für eine digitale Strategie

Dafür spricht erstens eine Rechtsgüterabwegung. Die momentanen Eingriffe in die Bewegungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Unternehmensfreiheit, die Berufsfreiheit, die Aussetzung des Schul- und Hochschulunterrichts bzw. dessen Simulierung durch digitale Formate sowie der Zwang zum Tragen einer medizinischen Maske in der Öffentlichkeit sind so gravierende Eingriffe, dass eine temporäre, und übrigens durch demokratisch legitimierte Organe überwachte, Einschränkung des Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ demgegenüber gering ausfällt.

Dies gilt umso mehr, wenn sich abzeichnen sollte, dass viele dieser Freiheitseinschränkungen fortgesetzt werden müssen. Die meisten Hochschulen planen zumindest auch für das kommende Sommersemester eine Fortführung des „digitalen“ Lehrbetriebs. Das wird dann das dritte Semester in Folge sein. Und wenn die Impfstrategie scheitern sollte, würde wohl auch das kommende Wintersemester in diesem Simulationsbetrieb stattfinden müssen. Insgesamt dann also vier Semester, ein ganzes Masterstudium. Ähnlich düstere Aussichten bestünden für die Schulen und natürlich auch für große Teile des Einzelhandels und des Gastronomiegewerbes, von den psychischen Kosten der Kontaktverbote ganz zu schweigen.

Zweitens, oben wurde darauf ja schon hingedeutet, handelt es sich bei den hierzulande geltenden Datenschutzbestimmungen, um eine ganz spezifisch deutsche Marotte. Zu verdanken haben wir diese einer politischen Kultur, wie sie sich seit den 1980er Jahren infolge der Volkszählungsboykottbewegung entwickelt hat und dann in der Form von „Datenschutzbeauftragten“ und dem bereits erwähnten Grundrecht auf „informationelle Selbstbestimmung“ institutionalisiert worden ist.

Aber wie demokratisch legitimiert ist diese „German Angst“ vor einer staatlichen Überwachung tatsächlich? Die Bereitschaft mit der die allermeisten Bürgerinnen und Bürger ihre Daten privaten Digitalfirmen wie amazon, google, twitter und facebook zur Verfügung stellen, lässt sich jedenfalls so interpretieren, dass es sich bei der Sorge um eine digitale Überwachung eher um Bedenken eines ganz spezifischen, in den neuen sozialen Bewegungen sozialisierten Milieus handelt, welches jedoch in der politischen Klasse und den Medien überrepräsentiert ist.

Überspitzt formuliert, wird hier eine ganze Gesellschaft in Sippenhaft genommen. Und sollte man nicht, angesichts der immer noch erstaunlich hohen Zustimmung zu den staatlichen verordneten Maßnahmen davon ausgehen können, dass das Vertrauen in die staatlichen Institutionen auch deren Umgang mit personalisierten Daten umfassen könnte? Gewiss, dazu bedarf es strikter Vorkehrungen, die sicherstellen, dass die Daten nur den Gesundheitsämtern und eben nicht den Strafvollzugsbehörden, wie teilweise bei Restaurantbesuchen im vergangenen Sommer geschehen, zur Verfügung gestellten werden. Aber das sollte angesichts der immensen Bedrohungslage doch realisierbar sein. Und eine polizeiliche Sittenaufsicht gehört ja nun wirklich der Vergangenheit an.

Wer aber drittens immer noch Bedenken gegenüber der Preisgabe personalisierter Bewegungsdaten hegen sollte, der sollte nicht zur Nutzung einer entsprechenden App verpflichtet werden. So viel Freiheit muss sein. Doch diese Freiheit würde dann eben auch den Verzicht etwa auf Restaurant- und Konzertbesuche oder auf Reisen mit der Bahn oder dem Flugzeug umfassen. Und vielleicht würde man sich dann auch weiterhin zum Tragen von medizinischen Masken im öffentlichen Raum entscheiden müssen. Aber man hätte die Wahl und das wäre ein Sieg der Freiheit.

 

Prof. Dr. Dirk Jörke