Sozialdemokratische Steuerpolitik in Zeiten des Umbruchs

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Wir brauchen einen starken Staat und eine gerechtere Steuerpolitik, schreibt der SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans in einem Gastbeitrag

 

Wenn Joe Biden seine Ankündigung im Kongress durchsetzen kann und Investitionen in den USA mittels staatlicher Ausgabenpolitik massiv ankurbelt, wird das die Wirtschafts- und Finanzpolitik in den Industriestaaten insgesamt verändern.

Bis heute hält sich hartnäckig die Legende, dass die heute dominierenden US-Player in der Technologie- und Digitalbranche ihre Vormachtstellung allein mit privater Finanzierung errungen hätten. In Wahrheit spielten öffentliche Gelder in den USA schon immer eine große Rolle, wie die Ökonomin und Innovationsforscherin Mariana Mazzucato eindrucksvoll gezeigt hat.

Biden als Vorbild und Blaupause

Bidens Plan ist umfassend: er belässt es nicht dabei, viel Geld über den Haushalt des Pentagon in die Hightech-Ökonomie zu pumpen – er geht die lange überfällige Sanierung und den Ausbau der maroden Infrastruktur des Landes an. Er will Bildung und öffentliche Daseinsfürsorge so ausbauen, dass Teilhabechancen für alle sowie Fortschritt und Wachstum entstehen; und nicht weiter dabei zusehen, dass die tiefen Risse in der US-amerikanischen Gesellschaft sich weiter vergrößern. Er stellt sich den Verpflichtungen und Chancen der USA im Kampf gegen den weltweiten Klimawandel. Und er bricht mit der irrigen Annahme, dass dazu Steuersenkungen für die Vermögendsten der richtige Ansatz sind. Im Gegenteil: Er will von den Unternehmen und den Reichen einen höheren Beitrag. Der jüngste Vorstoß seiner Finanzministerin Janet Yellen für eine internationale Mindeststeuer unterstreicht die neue Linie eindrucksvoll.

Die Erkenntnisse, die Bidens Plan zugrunde liegen, sind nicht neu. Ökonomen in den USA, Europa und besonders hierzulande fordern seit langem, dass der Staat die Rolle als Treiber der „Just Transition“ endlich annimmt. In Deutschland sind das gewerkschaftsnahe IMK und das arbeitgebernahe IW zu nennen, die in ihrer gemeinsamen Studie von 2019 für das nächste Jahrzehnt mindestens 450 Milliarden Euro für Bildung und Infrastruktur, für Dekarbonisierung, aber auch für bezahlbares Wohnen und besonders für kommunale Investitionen fordern, ebenso das DIW. Sie alle plädieren seit langem dafür, das niedrige Zinsniveau für zukunftssichernde Staatskredite zu nutzen und in großem Stil zu investieren. Das Projekt „Next Generation EU“ verfolgt ein ähnliches Ziel.

Zugleich unterstreichen die Protagonisten die Notwendigkeit, die Abgaben für Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen – insbesondere mit Kindern – bis deutlich über den Durchschnitt hinaus zu senken und durch einen zumutbar höheren Beitrag der Top-Einkommen und –Vermögen wenigstens teilweise gegenzufinanzieren. Das würde nicht nur die destabilisierende soziale Unwucht mindern, es würde auch die gesamtwirtschaftliche Kaufkraft stärken und der Konjunktur Schub geben.

Konservativer Backlash nicht ausgeschlossen

Wie so oft könnte ein Paradigmenwechsel der US-Politik den Mut dazu auch bei uns entscheidend stärken. Dort wie hier bietet der dringend nötige Re-Start nach der tiefgreifenden Wirtschaftskrise als Folge der Corona-Pandemie ein überwiegend günstiges gesellschaftliches Klima für beherzte Weichenstellungen in die Zukunft.

Aber machen wir uns nichts vor: Zeiten wie diese rufen auch jene auf den Plan, die das Heil im Konservieren von Strukturen und in der Austerität sehen. Man könnte auch sagen: im Stemmen gegen den Wandel und Kaputtsparen nach der Krise. Wir stehen an einer Schwelle, an der wir Chancen nutzen oder aber verspielen können. Steuerpolitik, die innovativem, gemeinwohlorientiertem Unternehmertum und nachhaltigem Wirtschaften Wege ebnet und zugleich den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt, wäre ein wichtiger Baustein dazu, die Chancen zu ergreifen und den unaufhaltsamen Wandel zum Wohl aller zu gestalten.

Auch wenn die unmittelbaren Herausforderungen durch Corona zurzeit einen Großteil unserer Aufmerksamkeit beanspruchen, hat die Dramatik des Klimawandels nicht nachgelassen. Wenn wir in Deutschland einen wirklich messbaren Beitrag zum weltweiten Klimaschutz leisten wollen, müssen wir jetzt die Grundlagen dafür schaffen, dass unsere Forschung und unsere Industrie global anwendbare Lösungen entwickeln und über qualifizierte Fachkräfte verfügen. Wer, wenn nicht eine Exportwirtschaft wie die unsere hätte dafür die besten Voraussetzungen?

Aber eine zunehmend marode Verkehrsinfrastruktur, miserable Mobilfunkverbindungen in vielen Regionen, brachliegende Talente in einer Gesellschaft mit hochgradig ungleich verteilten Chancen gefährden die immer noch gute Wettbewerbsposition Deutschlands. Damit droht die wahre Lastenverschiebung in die Zukunft, nicht mit einer ausgewogen kredit- und steuerfinanzierten Erneuerung.

Wir brauchen einen starken Staat

Transformation zu nachhaltigem, klimaneutralem Wirtschaften und die Stärkung einer Wirtschaft, die nicht nur optimiert, was vor langer Zeit erfunden wurde, sondern disruptiven Erfindergeist belohnt, die mit neuen Produkten und Verfahren „Made in Germany“ Klimaneutralität global voranbringt und damit gute Arbeit schafft, gelingt nicht mit einem armen Staat. Sie gelingt auch nicht mit einem Staat, der glaubt, Investitionen mit der Schwächung unserer sozialen Sicherungssysteme finanzieren zu können. Sie helfen uns doch gerade jetzt, die Folgen der Corona-Pandemie zu einem großen Teil aufzufangen. Die Zukunft gehört einem Staatswesen, dass investiert und zugleich systemrelevante Arbeit fair honoriert. Soziale Dienstleistungen sind nicht zweitrangig. Ihre Bedeutung wird gerade in einer alternden Gesellschaft zunehmen. Auch das wird viel öffentliches Geld kosten.

Dazu tritt die enorm ungleiche Betroffenheit durch die gegenwärtige Krise. Sie erreicht von der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz bis zu exorbitanten Krisengewinnen. Dass Innovationslust und Transformation zur Klimaneutralität steuerlich hinreichend begünstigt würden, kann man auch nicht behaupten. Deshalb spricht einiges für eine differenzierte, aufkommensneutrale Korrektur der Unternehmensbesteuerung. Für eine pauschale Unternehmenssteuersenkung gibt es aber – auch vor dem Hintergrund der US-Pläne für höhere Beiträge der Unternehmen in den USA selbst und für eine globale Mindestbesteuerung – keine Rechtfertigung.

Der gebetsmühlenhaft vorgetragenen Forderung einschlägiger Interessenverbände nach pauschaler Entlastung kann man entgegenhalten, wie die deutsche Wirtschaft zum Dauer-Exportweltmeister werden konnte, wenn das Gesamt-Set an Steuern und sonstigen Rahmenbedingungen die internationale Wettbewerbsposition so schwer belastet, wie immer wieder behauptet wird. Auch die Unternehmen profitieren von einem handlungsfähigen Staat, der Voraussetzungen dafür schafft, erfolgreich wirtschaften und Gewinne machen zu können.

Der wichtigste – und wenn wir es staatenübergreifend richtig machen – ergiebigste Beitrag zu einem stabilen und zukunftssichernden Gemeinwesen wäre es, dafür zu sorgen, dass Gewinne da versteuert werden, wo sie tatsächlich entstehen und dass ruinöser Steuerwettbewerb ein Ende hat. Wenn wir auch nur an die Hälfte des geschätzt dreistelligen Milliardenbetrags an Steuerumgehung und Steuerhinterziehung herankämen, wären öffentliche Investitionen und durchfinanzierte Sozialsysteme für lange Zeit gesichert.

Steuern sind kein Wert an sich. Wenn der Staat von seinen Bürger*innen und Unternehmen einen nennenswerten finanziellen Beitrag beansprucht, muss er sagen können, wofür und wie viel er von wem verlangt. Wir sollten den Sinn von Steuern immer wieder neu erklären. In Umfragen gibt es durch die Bank Zustimmung zu Ausgaben für Bildung, Klima und Soziales und die stärkere Beteiligung großer Einkommen und Vermögen an deren Finanzierung.

Vielfach erwecken potenzielle Zahler*innen und ihre Interessenvertreter in Verbänden und Politik den falschen Eindruck, es gäbe überhaupt keinen Bedarf. Oder sie versuchen den Bezieher*innen niedriger und mittlerer Einkommen zu erklären, dass die Last am Ende doch bei ihnen hängen bleibe. Diese Meinungsmanipulation hat in der Vergangenheit zu einer Lastenverteilung beigetragen, die die gesellschaftlichen Fliehkräfte eher verstärkt als abgebaut hat. Steuerreformen kamen wechselweise den hohen Einkommens- und Vermögensklassen zugute – oder aber allen Steuerzahlern, und auch dann umso mehr, je besser deren wirtschaftliche Verhältnisse waren. Dass nur die kleinen Einkommen entlastet worden wären, war die große Ausnahme. Und wenn, dann wurde und wird, wie im Fall der Abschaffung des Soli für die „unteren“ 96 Prozent der Einkommen, die geballte Macht des Lobbyismus in Gang gesetzt. Immer wieder heißt es dann, die wahren Leidtragenden kämen aus der arbeitenden Mitte. Genauso wie in der endlosen Debatte um den Spitzensteuersatz. Dass er nur für den Teil des Einkommens erhoben wird, den neunzig Prozent der Steuerzahler*innen nie erreichen, ist den meisten ebenso wenig bewusst wie die Tatsache, dass ein Grenzsteuersatz von 42 Prozent am Anfang des oberen Einkommens-Zehntels schon immer fällig wurde. Früher stieg der Steuersatz darüber hinaus aber weiter an. Deshalb waren 42 Prozent nicht die „Spitze“. Die lag noch in der Ära Kohl bei 53 Prozent.

Halten wir einfach die Fakten fest: Die Reformen vergangener Jahre haben kleinen und mittleren Einkommen am wenigsten gebracht, auch weil die Erhöhung der Mehrwertsteuer und einiger Verbrauchsteuern sie überproportional belastet hat. Von der drastischen Absenkung des sogenannten Spitzensteuersatzes, der Stilllegung der Vermögensteuer und der Reform der Erbschaftsteuer haben ausschließlich wenige Prozent ganz oben in der Einkommens- und Vermögenspyramide profitiert. Steuerliche Abzüge, angefangen bei Spenden bis hin zum Kinderfreibetrag, sind immer noch umso lohnender, je höher das Einkommen ist.

Zusammen mit den Beiträgen zur Sozialversicherung ergibt sich deshalb schon lange kein progressiver Verlauf der Abgabenbelastung mehr, der starken Schultern prozentual mehr abverlangen würde als schwachen. Stattdessen müssen Kleinverdiener über alle Steuerarten gesehen anteilsmäßig mehr an den Fiskus abtreten als die „untere Mitte“. Die „obere Mitte“ wiederum gibt mehr ab als das obere Segment der Steuerzahler. Für die oberen rund 15 Prozent sinken die Gesamtabgaben mit weiter steigendem Einkommen sogar wieder. Diese Schieflage widerstrebt nicht nur dem Gerechtigkeitssinn. Sie hat das Zeug, den sozialen Frieden zu gefährden. Das aber würde am Ende allen Schichten der Gesellschaft schaden. Die Initiative von 83 Multimillionären aus sieben Staaten, die im vergangenen Jahr für einen Sonderbeitrag der Wohlhabenden in der Krise plädiert haben, zeigt jedoch ein Umdenken, von dem man sich wünschen würde, dass es weite Kreise zieht.

Mehr Gerechtigkeit durch gute Steuerpolitik

Den Wohlstand der großen Mehrheit sichern wir nicht, indem wir zusehen, wie sich Wenige immer weiter nach oben absetzen, während am unteren Rand immer mehr in prekäre Verhältnisse abrutschen oder abzurutschen befürchten. Wir sichern ihn auch nicht, indem wir die Lebenshaltungskosten der wirklichen Mitte durch Ausbeutung von Mensch und Umwelt im eigenen Land (zum Beispiel Fleischproduktion) und in anderen Regionen der Welt (zum Beispiel Textilien und Elektronik) niedrig halten. Nicht weniger inakzeptabel ist die grobe Missachtung des Tierwohls. Wenn für nachhaltiges Wirtschaften höhere Kosten entstehen, müssen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten dafür sorgen, dass die Mehrheit nicht auf die Zuschauerbühne der Wohlstandsgesellschaft verbannt wird. Ohne einen Ausgleich durch gute Löhne und eine gerechtere Abgabenverteilung käme es aber dazu.

Mitten in einer tiefgreifenden Krise, im Angesicht eines unumgänglichen Wandels unserer Wirtschaft und zunehmenden Ängsten vieler Menschen vor einer unsicheren Zukunft haben Politik und Wirtschaft die gemeinsame Aufgabe, für Sicherheit im Wandel und Wohlstand durch Wandel zu sorgen. Mit dem Zukunftsprogramm für die Bundestagswahl 2021 legt die SPD dafür einen wichtigen Grundstein.

 

Norbert Walter-Borjans

 

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