Schritte in die ökosoziale Industriegesellschaft – Herausforderung für Gewerkschaften

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Gesellschaftspolitische Postulate haben es nicht leicht bei Gewerkschafter:innen. Bei ständig steigenden Ansprüchen in der täglichen betrieblichen Arbeit bleiben gesellschaftliche Perspektiven schnell auf der Strecke. Das gilt gerade für die extremen Krisensituationen, an denen es in diesem Jahrhundert bisher nicht mangelt. Das gilt für die aktuelle Pandemie, aber auch für die schon historische „Finanzkrise“, auslöst durch den Zusammenbruch einiger Großbanken im Herbst 2008. Und es gilt ganz besonders für eine Krise, die in ihrer Bedeutung für die Menschen alle anderen überflügeln wird: den Klimawandel.

Wurden und werden mit dem betrieblichen „Kleinklein“ möglicherweise Chancen auf große gesellschaftliche Veränderungen vertan? Es liegt viel Wahrheit in einem Satz, den Antonio Gramsci, inhaftiert von den italienischen Faschisten, in seinen berühmten „Gefängnisheften“ schreibt: „Ausgeschlossen kann werden, dass die unmittelbaren Wirtschaftskrisen von sich aus fundamentale Ereignisse hervorbringen“. (Heft 13, §17) Im entscheidenden zweiten Halbsatz zeigt Gramsci eine Herausforderung, mit der die Gewerkschaftsbewegung fast 100 Jahre nach der Niederschrift immer noch konfrontiert ist: „sie können nur einen günstigeren Boden für die Verbreitung bestimmter Weisen bereiten, die für die ganze weitere Entwicklung des staatlichen Lebens entscheidenden Fragen zu denken, zu stellen und zu lösen.“ Auch wenn in der Finanzkrise und in der Covid-19-Pandemie die „entscheidenden Fragen“ durchaus gedacht werden; es gibt wenig Anzeichen, die eine Hegemonie – um bei Gramsci zu bleiben – dieser „Weisen“ erkennen lassen.

Der Spagat zwischen Tageskampf und großen Zielen

Gewerkschafter:innen üben einen täglichen Spagat. Zwischen dem Wertesystem, das sich aus den Kämpfen der Arbeiterbewegung ergeben hat und auf eine „weitere Demokratisierung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft“ drängt – so Paragraph 2 der Satzung der IG Metall – und den aktuellen Ansprüchen der Beschäftigten, die sich gerade durch die historischen Erfolge entwickeln konnten. Krisen verstärken offenbar nicht das Bedürfnis nach Wandel, sondern das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit. Ganz konkret nach guter Arbeit, guten Einkommen und einer Perspektive.

Man kann den Eindruck gewinnen, dass diese Erkenntnis ein Privileg für Gewerkschafter:innen zu sein scheint und in allzu akademisch angehauchten „linken“ Debatten zu einer Randnotiz verkommt. Davor kann man nur warnen, wenn man nicht will, dass mögliche Allianzen für den ökosozialen Wandel an den Elfenbeintürmen der Orthodoxie scheitern.

Das Pendel schlägt in der gewerkschaftlichen Arbeit zwangsläufig in eine pragmatische Richtung aus und besinnt sich auf Willi Bleicher. Die Feststellung des legendären Metallers und Widerstandskämpfers gilt beileibe nicht nur für Tarifrunden: „Tariffragen sind Machtfragen – es kommt nicht darauf an, was wir wollen, sondern was wir durchzusetzen in der Lage sind.“

Als Gewerkschaften bringen wir viele Stärken mit, um die Herausforderungen anzugehen. Sachverstand und Erfahrung, die Nähe zu unseren Betriebsräten und Belegschaften, starke Wurzeln, klare Werte und Entschlossenheit. Mit all ihren Kompetenzen können Gewerkschaften selbstbewusst agieren. Und offen bleiben für Anregungen, neue Ideen und Inspiration. Selbstbewusst – das darf nicht selbstgerecht bedeuten. Sondern das Zusammenwirken unterschiedlicher Kompetenzen zu initiieren und zu fördern, die umfassende Debatte über gesellschaftspolitische Entwicklungspfade eröffnen und verbreitern.

Allianzen für einen ökosozialen Umbau?

Es ist klar, dass eine Allianz mit „Bewegungen“ alleine für einen ökosozialen Umbau unserer Gesellschaft und unserer Ökonomie nicht reichen wird. Zu groß sind die Aufgaben, zu umfassend die Herausforderungen: der klimaneutrale Umbau unserer Industrie und unserer Energiesysteme und ein die Ressourcen schonender, in die Zukunft gerichteter Umbau unserer Mobilität. Um einen ökosozial nachhaltigen Entwicklungspfad erfolgreich zu beschreiten, müssen viele gesellschaftliche Gruppen, Organisationen und Institutionen mitwirken. Selbstverständlich soziale und ökologische Bewegungen, aber auch Forschungsinstitute, Wirtschaftsverbände und Unternehmen sowie deutsche und europäische Politik. Streit, Diskussionen und Auseinandersetzungen sind ständiger Begleiter auf der Wegstrecke. Auch wenn die Wirtschaft die Notwendigkeit von Klimaschutz erkennt und anerkennt, setzt dies die kapitalistische Verwertungslogik nicht außer Kraft.

Wir blicken auf ausdifferenzierte Strukturen und komplexe Prozesse unserer Gesellschaft, zunehmend auch auf Angebote der Identitätsstiftung in skurrilen bis revanchistischen Gruppen. Und wir sehen divergierende Interessen. Reale Interessen- und Zielkonflikte lassen sich nicht einfach durch ein wie und von wem auch immer postuliertes Allgemeinwohl aufheben.

Dennoch muss sich Hegemonie im neogramscianen Sinne verschieben – weg von den seit Jahrzehnten dominierenden neoliberalen Konstrukten, hin zu einem – noch auszubuchstabierenden – ökosozialen Entwicklungspfad. Als Gewerkschaften formulieren wir deutlich: Niemand darf zurückbleiben, niemand darf übersehen werden. Nicht junge Menschen, die sich berechtigte Sorgen um unseren Planeten machen. Nicht unsere Kolleg:innen in den betroffenen Branchen, die nicht wissen, wie ihre berufliche Zukunft aussehen wird. Wir müssen einen gemeinsamen Blick in die Zukunft werfen. Nur ein breiter gesellschaftlicher und ökonomischer Konsens wird diese Transformation zum Erfolg machen. Wir müssen beweisen, dass mitbestimmte und gut bezahlte Industriearbeit und konsequenter Klimaschutz kein Widerspruch sind. Weder in Deutschland noch in anderen Ländern.

Als Gewerkschaften können wir bei dieser entscheidenden Frage nicht nur ein gewichtiges Wort mitreden, sondern Gestalterinnen sein. Wenn wir die Erwartungen anderer gesellschaftlicher Gruppen wahrnehmen, ihnen zuhören, ihre Kompetenzen anerkennen und mit ihnen diskutieren, wenn wir Bündnisse einfordern. Für die IG Metall gesprochen, wird das gelingen, wenn wir gesellschaftspolitisch agieren und uns dem Diskurs stellen. Die IG Metall lässt sich weder auf Lobbyismus noch Tarifmaschine reduzieren. Die IG Metall ist eine progressive, gesellschaftliche Kraft, die gemeinsam mit den Beschäftigten in den Betrieben und Unternehmen unsere Zukunft gestalten kann; mutig, visionär und durchsetzungsfähig. Als diese Kraft muss sie wieder sichtbarer werden.

Chancen für einen Dialog

Wir suchen den gesellschaftspolitischen Dialog mit allen gesellschaftlichen Gruppen, wenn nötig auch im Konflikt. Offenheit darf nicht willfährig werden. Eine ökologische Transformation, die uns einen vielversprechenden Weg in die Zukunft ebnen kann, muss sozial, demokratisch und vielfältig sein. Wir stellen den selbstbestimmten, freien Menschen in den Mittelpunkt, der sich in einer gerechten und solidarischen Arbeitswelt und einer offenen Gesellschaft bewegt. Diese Werte machen uns stark, diese Werte leben wir. Wir haben, was wir brauchen, um auch bei Zukunftsfragen zu bestehen und zu überzeugen. Die Grundwerte der Gewerkschaftsbewegung bleiben nicht nur für uns modern und zukunftsweisend.

Chancen für diesen progressiven Dialog sind durchaus vorhanden. Die Corona-Pandemie hat die marktradikalen Ich-Gesellschaften in ihrem Glauben erschüttert. Eine Epoche, die sich von Reagan und Thatcher über Schröder und Blair bis ins Heute zieht, hinterfragt sich zunehmend selbst. Die schon von Milton Friedman propagierte These, dass individuelle Leistung sich letztendlich für alle lohne, wurde in ihrem Stresstest ad Absurdum geführt. Nicht Investmentbanker mit immensen Gehältern und Boni haben das tägliche Überleben unserer Gesellschaften ermöglicht; es waren die „Frontline Worker“, die nicht einmal von Bruchteilen dieser Gehälter träumen können.

Es zeigt sich immer deutlicher, dass sich epochale Krisen nur gemeinschaftlich lösen lassen. Kein Egotrip wird uns voranbringen, sondern gemeinsame Ideen und Lösungen. Eine zu optimistische Idee? Vielleicht. Aber die beiden Ökonomen Paul Collier und John Kay machen Hoffnung. Ihr kurz vor Beginn der Covid-19-Pandemie veröffentlichtes Essay „Greed is Dead“ schließt mit dem folgenden Satz: „Soon, we will either be celebrating the value of community, or contemplating the awful consequences of its loss.“

 

Jürger Kerner

 

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