23.04.2024Geopolitik

Neue Realitäten – die Politisierung der Ökonomie und die Ökonomisierung der Politik

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»Die Welt ist eine andere geworden« kommentierte der deutsche Bundeskanzler am Tag des Angriffes Putins auf die Ukraine. Dieser Krieg währt inzwischen zwei Jahre, sein Ende ist ungewiss. Das betrifft sowohl die Frage des Zeitpunktes und die Frage des Ergebnisses. Auch wenn wir dies nicht wissen, die Konsequenzen sind bereits erfahrbar und erkennbar. Bereits der Angriff am 24.02.2022 hat zu einer grundlegenden Zäsur geführt – dem Übergang von einer Friedensordnung zu einer neuen Konfliktordnung. Ein Krieg von globaler, internationaler Bedeutung. Auch wenn der Krieg (hoffentlich bald) endet, sind damit weiterreichende strukturelle Veränderungen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur in Europa verbunden.

Die Krisen- und Konfliktherde im Nahen Osten und ein möglicher Taiwankonflikt können diese Entwicklung noch weiter verschärfen. Die Stabilität und Verlässlichkeit einer regelbasierten internationalen Ordnung ist Geschichte. Ob und wie ein neues System internationaler Ordnung aufbauend auf integrativ kooperativen Regularien wieder entstehen kann, ist nicht absehbar. Ein konfliktäres Zeitalter hat begonnen, mit Konflikten auf unterschiedlichen Ebenen und Ausprägungen.

Wie diese Konflikte vermieden und eingehegt werden können ist offene Frage und Herausforderung zugleich. Eine multipolare Welt wird sich entwickeln, mit neuen Unsicherheiten, mit veränderten Prozessen und Regeln, neuen Allianzen und geoökonomischen Unsicherheiten. Die Auseinandersetzung um Einflusssphären, politische und ökonomische Netzwerke, die Sicherung von Handelswegen, Lieferketten, Energie und Rohstoffen wird neu justiert werden. Der Einfluss des Westens – politisch, militärisch, ökonomisch – droht weiter zu erodieren.

Die Haltung der Staaten und deren Positionierung zum russischen Angriffskrieg lässt dies erahnen. Zwar haben 40 Länder mit einem Anteil von 60 % des weltweiten BIP den Angriff verurteilt und sich dem Sanktionsregime gegen Russland angeschlossen, 50 % der Weltbevölkerung hat sich entsprechenden UN-Resolutionen nicht angeschlossen. Ökonomisch haben sich Länder wie China und Indien sogar an Russland herangeführt, das vom Westen auf den Weg gebrachte Sanktionsregime zeigt bislang nur mäßige Wirkung.

Dieser geopolitische Strukturbruch wird weitreichende geoökonomische Veränderungen mit sich bringen. Gabriel Felbermayr und Christoph Herrmann sprechen in einem Beitrag für die FAZ davon, dass »Wirtschaftspolitik als Waffe« benutzt und instrumentalisiert werde. Eine neue Periode der Geoökonomie entwickelt sich. Geoökonomie bedeutet nichts anderes als die Verbindung und Verflechtung von Außen-, Sicherheits-, Außenwirtschafts-, Handels- und Industriepolitik. Es ist kein Zufall, dass der Inflation Reduction Act, das Programm zur Reindustrialisierung der USA vom sicherheitspolitischen Berater des US Präsidenten Biden erdacht und konzipiert worden ist. Wirtschaftliche, technologische und Ressourcenabhängigkeiten sollen reduziert werden und gleichzeitig Technologieführerschaft in zentralen Feldern gesichert, aufgebaut und entwickelt werden. Das zeigt ein neues Sicherheitsverständnis und einen Paradigmenwechsel der USA zu einer Industrie- und Technologiepolitik als wesentlichem Teil von Sicherheitspolitik.

Was sich abzeichnet sind neben außenpolitischen Unsicherheiten auch zunehmende ökonomische Unsicherheiten vor dem Hintergrund der beschriebenen geopolitischen Verwerfungen. Die Ära der Hyperglobalisierung ist zu Ende – an ihre Stelle treten Derisking, Friendshoring, Diversifizierung von Handelsfirmen, Lieferketten und Investitionen. Die Terms of Business und Trade werden nun geopolitisch dekliniert. Das Ergebnis ist eine Politisierung der Ökonomie und eine Ökonomisierung der Politik. Der Trend zu Handels- und Importbarrieren, Lokal Content Vorgaben, nationalen Beschaffungsregimen, Investitionsauflagen für bestimmte Länder und Regionen etc. kann und wird zunehmen. Dies alles vor dem Hintergrund einer nicht mehr handlungsfähigen, an Bedeutung verlierenden WTO, deren Aufgabe es einmal war, ein regelbasiertes internationales Handelssystem zu gewährleisten. Doch das war schon vor dem geopolitischen Strukturbruch bereits Geschichte. Die Weltwirtschaft wird eine andere sein.

Das alles stellt Europa und Deutschland vor besondere Herausforderungen. Gerade Deutschland und Europa haben nach dem Ende des Kalten Krieges in hohem Maße von der internationalen Arbeitsteilung profitiert und konnten dadurch erhebliche Wachstums- und Einkommensgewinne realisieren. In Zeiten einer sich abzeichnenden geoökonomischen Neuordnung droht dieser Wachstumsmotor mindestens einmal zu stottern. Europa und Deutschland stehen vor der Aufgabe, ein neues Geschäfts-, Resilienz- und Souveränitätsmodell zu entwickeln.

Der Platz Europas und ihre Rolle in der Triade USA, China, Europa und der neuen mulipolaren Ordnung ist gefährdet – sowohl politisch, ökonomisch und technologisch. In 2022 hatte Europa mit 14,5 % den größten Anteil am weltweiten Außenhandel, vor China mit 10,6 % und den USA mit 10,1 % und war damit eine wesentliche Basis für Wachstum und Beschäftigung. Das mit Gründung der WTO entwickelte regelbasierte Handels- und Freihandelssystem verliert seine ordnende Funktion. Macht- und sicherheitspolitische Aspekte werden weiter an Bedeutung gewinnen. Darauf haben Europa und Deutschland allenfalls in Konturen bislang eine Antwort.

Europa ist ressourcenschwach und es ist abhängig von Energie- und Rohstoffimporten. Die bisherige internationale Arbeitsteilung hat zum Beispiel zu Abhängigkeiten im Bereich der Energiewende geführt. Bei der Photovoltaik kommen ca. 90 % der gesamten Wertschöpfungsstufen aus China, ähnliches gilt für die Windenergie. Europa ist abhängig von Batteriezellen für die Elektomobilität, von nicht in Europa produzierten integrierten Chips. Technologische Lücken tun sich in der Digitalisierung, der Künstlichen In- telligenz und der Biotechnologie auf.

In Europa und Deutschland muss man endlich beginnen, geopolitisch und geoökonomisch zu denken und zu handeln. Die Maßnahmen zur Stärkung der Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit können dabei nur ein Aspekt, wenn auch ein notwendiger, sein. Auch die Ankündigung von Ursula von der Leyen einer »geopolitischen Kommission« von 2019 muss endlich Realität werden. Das heißt vor allem ein umfassendes Programm in der Wirtschafts-, Industrie- und Handelspolitik, das die geopolitischen und geoökonomischen Veränderungsprozesse aufnimmt und durch gezielte Maßnahmen unterstützt. Das setzt allerdings einen Kultur- und Funktionswandel im Zusammenspiel von Kommission und Mitgliedsländern voraus. Europapolitik darf nicht vor allem an nationalen Interessen und Vorteilen ausgerichtet sein. Sie muss Perspektiven, Maßnahmen und Korridore eröffnen, die Europa in den neuen Realitäten handlungs- und zukunftsfähig machen. Dazu gehören:

  • Reform des Einstimmigkeitsprinzips in zentralen außen-, handels- und industriepolitischen Themen.
  • Stärkung und Vertiefung des Binnenmarktes im Bereich der Kapitalmarktunion, der Digitalisierung und der Energiepolitik.
  • Eine offensive, beschleunigte Handelspolitik mit entsprechen Abkommen (36 bestehende Handelsabkommen, 25 in Verhandlung), die Handelsverträge zu globalen Problemen nicht überfrachtet und Interessen anderer Länder stärker berücksichtigt. Kluge Handelspolitik ist und muss Teil einer Sicherheits- und Allianzpolitik werden.
  • Beschleunigter Aufbau von Energie – und Rohstoffallianzen als zentrale Voraussetzung und zentrales Element der europäischen Transformationspolitik.
  • Entwicklung einer strategischen Industriepolitik für mehr Wettbewerbsfähigkeit, Resilienz und der Aufbau von Zukunftsbranchen. Dafür wird einem Vizepräsidenten die Verantwortung übertragen und ein Industrial New Deal als Ergänzung zum Green New Deal entwickelt.
  • Stärkung der finanziellen Ressourcen der Kommission und der EIB, damit Ziele, Pfade und Instrumente im Einklang miteinander stehen und endlich stärker aufeinander abgestimmt werden.
  • Aufbau einer abgestimmten Industrie- und Beschaffungspolitik für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dafür wird die Funktion eines dafür zuständigen Kommissars und einer entsprechenden Generaldirektion geschaffen.

Das wäre ein ambitioniertes Programm. Damit würde Europa zeigen, dass es die neuen Realitäten nicht nur verstanden hat, sondern auch in der Lage ist, Antworten zu entwickeln und zu geben. Die Antworten von gestern oder inkrementelle Politiken, Reförmchen und Instrumente sind keine Antworten mehr für die Zukunft.

»Europa besteht aus Staaten, die sich nicht vorschreiben lassen, was sie selber beschlossen haben.« (Werner Schneyder)

Darüber hinaus darf eines nicht passieren, wenn es um die Zukunft geht: Aus nationalen Egoismen die Augen davor zu verschließen, was jetzt notwendig ist. Europa muss den Willen und die Kraft haben, in den neuen Realitäten politisch, ökonomisch, außen- und sicherheitspolitisch ein Spieler und kein Spielball zu sein.

 

Der Text ist eine Vorabveröffentlichung des neuen Bandes des Wirtschaftsforums der SPD mit dem Titel „Geoeconomics – Ökonomie und Politik in der Zeitenwende“, der Anfang Mai erscheinen wird.

Hier können Sie das Buch vorbestellen.

Das Geleitwort von Bundesminister Dr. Robert Habeck können Sie hier vorab lesen.