Die Einkommensteuer ist oftmals Kern der steuerpolitischen Debatte. Zwei Gründe spielen dafür eine wesentliche Rolle: Zum einen ist die Einkommensteuer die aufkommensstärkste Steuerart, zum anderen entzündet sich die Frage der Steuergerechtigkeit an keiner anderen Steuerart so intensiv. Der Einkommensteuertarif gilt als Inbegriff der Einhaltung des Leistungsfähigkeitsprinzips, das sich aus dem Gleichheitsgrundsatz in Artikel 3 des Grundgesetzes ergibt, wonach derjenige, der wirtschaftlich stärker ist, auch mehr Steuern zahlen soll.
Durch den linear-progressiven Einkommensteuertarif steigt die Steuerbelastung mit jedem zusätzlich erwirtschafteten Euro nicht nur absolut, sondern auch relativ. Im Ergebnis bedeutet dies, dass Steuerpflichtige mit einem höheren zu versteuernden Einkommen auch einen höheren Durchschnittssteuersatz zahlen. Eine ebenfalls progressive Wirkung hat der Solidaritätszuschlag (Soli), der bis 2020 als zusätzlicher Aufschlag auf die Einkommensteuer erhoben wurde. Seit 2021 fällt der Soli bei einem Single nur noch ab einem zu versteuernden Einkommen von etwa 62.200 Euro an (oder dem doppelten Einkommen bei einem Ehepaar). Als Aufschlag auf die Abgeltungssteuer bleibt der Soli unabhängig von der Höhe der Einkünfte ebenfalls bestehen. Im Ergebnis zahlen in etwa die oberen 10 Prozent der Einkommensverteilung weiterhin den Soli.
In der derzeitigen politischen Debatte um Steuererleichterungen oder die Abschaffung des Soli taucht immer wieder von Befürwortern von Steuererhöhungen für „Reiche“ das Argument auf, dass höhere Einkommen durch die rot-grüne Einkommensteuerreform zwischen den Jahren 2000 und 2005 entlastet worden wären und davon bis heute profitieren würden. Damals wurde der Spitzensteuersatz von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt und im Jahr 2007 ein Reichensteuersatz von 45 Prozent für sehr hohe Einkommen eingeführt. Hinzu kommen Forderungen, die Abgeltungsteuer wieder abzuschaffen und Kapitalerträge wieder dem persönlichen Einkommensteuersatz zu unterwerfen, weil die Abgeltungsteuer mit dem festen Steuersatz von 25 Prozent die Belastung der hohen Einkommen weiter gesenkt hätte. Allerdings fußen diese Argumente nur auf den tariflichen Änderungen der Steuersätze und vernachlässigen die Einkommensentwicklung sowie deren Verhältnis zu Tarifgrenzen, Freibeträgen und schließlich der Bemessungsgrundlage. Somit kann aus den tariflichen Änderungen nicht geschlossen werden, dass die höheren Einkommen im Verhältnis weniger Steuern zahlen als früher.
Ein kürzlich erschienenes Gutachten vom Institut der deutschen Wirtschaft im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft zeigt mit einer zeitlich konsistenten Datenbasis zur Einkommensverteilung im Zeitraum von 1998 bis 2021 eher das Gegenteil. Zwar sank die durchschnittliche Steuerbelastung der Bruttoeinkommen durch Einkommensteuer und Soli für die oberen 10 Prozent und die oberen 1 Prozent der Einkommensverteilung unmittelbar nach der rot-grünen Steuerreform Anfang des Jahrtausends.
In der Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs nach der Finanzkrise zwischen 2010 und 2019 führten jedoch ausbleibende Anpassungen des Einkommensteuertarifs sowie vieler Freibeträge an die Realeinkommensentwicklungen dazu, dass im Jahr 2019 die Steuerbelastung der Bruttoeinkommen aller Einkommensgruppen – selbst die der oberen 1 Prozent – höher lag als im Jahr 1998. Die oberen 1 Prozent wiesen 2019 im Schnitt eine Belastung von 34,6 Prozent ihres Bruttoeinkommens auf, während die Belastung 1998 bei 31,3 Prozent lag. Selbst in einem „Corona“-Szenario für 2021, das Einkommensrückgänge im Zuge der Krise berücksichtigt, bleibt dieses Ergebnis erhalten, denn dort liegt die Belastung immer noch bei 31,9 Prozent. Zurückgehende Einkommen in der Krise führen zu sinkenden Durchschnittsbelastungen auch in den niedrigeren Einkommensgruppen, bei denen allerdings auch die Teilabschaffung des Solis eine Rolle spielt. Der Rückgang der Belastung für die oberen Einkommen erfolgt allerdings nur aufgrund der Einkommensrückgänge, denn im Gegensatz zu den anderen Gruppen bleibt die Belastung mit dem Soli erhalten.
Beim Anteil am gesamten Steueraufkommen aus Einkommensteuer und Soli lagen die oberen 10 Prozent der Einkommensverteilung trotz der Senkung der Spitzensteuersätze immer über dem Wert des Ausgangsjahres 1998 – im Jahr 2019 betrug der Anteil 51 Prozent, während dieser 1998 50,1 Prozent betrug. Generell blieb dieser Anteil im betrachteten Zeitraum relativ konstant. Der Aufkommensanteil der oberen 1 Prozent lag im Jahr 2019 bei knapp 21 Prozent und damit immer leicht unter dem Ausgangswert 1998 von 22,5 Prozent. Dieser Wert wird aber voraussichtlich durch die Auswirkungen der Corona-Krise im Jahr 2021 überschritten. Denn nach ersten Erkenntnissen zu den Einkommensauswirkungen der Corona-Krise sind die Bruttoeinkommen für die höheren Einkommen prozentual weniger stark gefallen als für die anderen Einkommensgruppen – im Gegensatz zu den verfügbaren Einkommen (nach Transfers), die für die unteren Einkommen weniger stark gefallen sind als zum Beispiel für die oberen 10 Prozent der Einkommensverteilung.
Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass das bloße Abstellen auf die Senkungen des Spitzensteuersatzes am Anfang des Jahrtausends wenig über die aktuelle Steuerlastverteilung aussagt. In der Zwischenzeit haben sich die Einkommen gut entwickelt, während Reformen der Einkommensteuer vernachlässigt wurden. Im Jahr 2019 waren die Einkommen in allen Einkommensgruppen höheren Durchschnittssteuersätzen ausgesetzt als 1998. Für die oberen Einkommensgruppen gilt dies für 2019 selbst, wenn der Soli schon abgeschafft worden wäre. Die hohen Einkommen tragen weiterhin den Großteil des Steueraufkommens, denn diese Wirkungsweise der Einkommensteuer gilt heute mit dem bestehenden Steuertarif genauso wie in früheren Jahren.
Dr. Martin Beznoska
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