Die Notwendigkeit einer resilienten Wirtschaft und eines agilen, adaptionsfähigen Staates hat uns die Corona-Pandemie mehr als verdeutlicht. Egal ob Masken, Hefe, Impfstoffe oder Notebooks sie und andere sind oder waren in den vergangenen 14 Monaten knappe Güter. Die damit verbundenen Versorgungsengpässe werden für immer im kollektiven Gedächtnis mit der Pandemie verbunden sein. Zu den Bildern der Krise gehört jedoch ebenso der Blick in die deutsche Verwaltung, in der Aktenberge und Fax-Geräte die Erfassung und Verarbeitung von Corona-Fällen prägen.
Während uns die Lieferengpässe die Verflechtung ökonomischer Aktivitäten in internationale Logistik- und Wertschöpfungsketten vor Augen führt, fällt uns im zweiten Beispiel der schon zuvor bekannte eklatante Digitalisierungsrückstand in der Verwaltung nun endgültig auf die Füße. Doch es gibt auch Lichtblicke in der Pandemie: Die Entwicklung des mRNA-basierten Corona-Vakzins von BionTech/Pfizer als ein gigantischer weltweiter Erfolg und beweist, dass der Standort Deutschland immer noch die Fähigkeit hat, innovative und marktreife Lösungen auf Basis erstklassiger Grundlagenforschung zu entwickeln.
Nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Verfügbarkeit von Impfstoffen und der damit verbundenen Hoffnung auf ein Abebben der Pandemie erwartet der BDI im laufenden Jahr ein Wachstum der realen Wirtschaftsleistung in Deutschland um 3,5 Prozent. Dabei wird ein Nachfrageimpuls aus China und den Vereinigten Staaten der zentrale Treiber des post-Covid-Aufschwungs sein. Der Anstieg der Exporte wird aktuell auf sechs Prozent prognostiziert. Diese Zahlen stellen jedoch nur eine notwendige Bedingung für den Aufschwung dar. Denn die wirtschaftliche Entwicklung einer Volkswirtschaft und eines jeden Unternehmens hängt ebenso von der Wirksamkeit und dem Timing der getroffenen Anti-Corona-Maßnahmen wie der Fähigkeit einer jeden Organisation ab, angemessen auf externe Schocks reagieren zu können.
Resilienz als die Fähigkeit zur Adaption angesichts extern induzierter Schocks
Die Resilienz eines Unternehmens lässt sich, nach den Ökonomen Starr, Newfrock und Delurey, als „die Fähigkeit und Kapazität, systemischen Diskontinuitäten zu widerstehen und sich an neue Risikoumgebungen anzupassen“ definieren. Unternehmen müssen folglich in Krisenzeiten, so mit Hamel und Välikangas zwei weitere Wirtschaftsexperten, „genauso effizient bei der Erneuerung sein […], wie sie es bei der Herstellung der heutigen Produkte und Dienstleistungen sind.“ Dies ist umso bedeutender, da sich Unternehmen heutzutage im Allgemeinen mit steigenden Interdependenz-Risiken konfrontiert sehen, die eine rasche Reaktion auf unvorhersehbare Ereignisse verlangen. Dies hat weitreichende Implikationen für Unternehmen und bedarf eines hohen Maßes an Flexibilität und Innovationsfähigkeit.
Elemente einer ambitionierten Zukunftspolitik
Die bloße Verbalisierung der Forderung nach einer Stärkung der Resilienz ist längst nicht ausreichend. Europa muss zuerst einmal definieren, was es unter digitaler oder technologischer „Souveränität“ versteht. Souveränität darf im Digitalen nicht mit Autarkie oder völliger Selbstversorgung gleichgesetzt werden. Sondern im Sinne von Entscheidungsfreiheit und technologischen Wahlmöglichkeit. Um Europas „strategische Autonomie“, wie es Ratspräsident Charles Michel nennt, zu wahren, bedarf es neben der Bereitschaft von Unternehmen, neue wettbewerbsfähige Produkte und Lösungen zu entwickeln, auch einer ambitionierten Zukunftspolitik für Deutschland und Europa. Diese muss den Dreiklang aus einem innovationsbegünstigenden politisch-regulatorischen Rahmen, einem Höchstmaß an technologischer und digitaler Affinität und Entwicklergeist sowie einer exzellent ausgebildeten Bevölkerung fördern.
Die Unterstützung von Projekten wie GAIA-X oder der Aufbau von IPCEIs, jenen Important Projects of Common European Interest mit denen eine strategische Förderung von Technologien, wie die Mikroelektronik, des Quantencomputings oder der Wasserstoff-Technologie, ermöglicht werden sollen sind erste richtige Schritte, doch es besteht weiterer Handlungsbedarf. Um auch langfristig den Wohlstand am Standort Deutschland zu sichern, muss die nächste Bundesregierung von Anfang an in den Zukunftsmodus schalten. Deutschland und Europa können sich keinen Stillstand erlauben. Ob es dafür eines – aktuell viel diskutierten – Zukunftsministeriums bedarf, sei einmal dahingestellt. Ich meine, alle Ministerien müssen grundsätzlich den Anspruch verfolgen, die Zukunft aktiv zu gestalten. Auch müssen in jedem Politikfeld neue Technologien gefördert und zum Wohle aller nutzbar gemacht werden.
Aus Sicht der deutschen Industrie muss in erster Linie der politische Rahmen so ausgestaltet werden, dass sich innovative Technologien und Produkte „Made in Germany“ im weltweiten Wettbewerb durchsetzen können. Nehmen wir als Beispiel den Bereich der Künstlichen Intelligenz, die eine Schlüsseltechnologie für die nächste Stufe der Digitalisierung darstellt. Gerade im B2B-Sektor gibt es zahlreiche Einsatzfelder für KI, die perfekt in das Portfolio heimischer Industrieunternehmen passen. Daher kommt es entscheidend darauf an, unsere industrielle Stärke mit den Möglichkeiten von KI zu kombinieren. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es u.a. von großer Bedeutung, Kompetenz- und Testzentren für KI-basierte Lösungen zu fördern, um gerade kleinen und mittleren Unternehmen die frühzeitige Erprobung KI-basierter Anwendungen zu ermöglichen.
Ein weiterer Punkt liegt mir ebenfalls besonders am Herzen: Grundlage für technologische Innovationssprünge und wettbewerbsfähige Lösungen sind Forschung und Entwicklung am Standort Deutschland. Zur Stabilisierung der Wirtschaft und zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes Deutschland nach der Corona-Krise sind vor allem starke Investitionsanreize notwendig. Im internationalen Innovationswettbewerb belegt Deutschland regelmäßig einen der vorderen Plätze. Allein die Unternehmen in Deutschland haben 2019 für eigene, unternehmensinterne Forschung und Entwicklung 75,6 Milliarden Euro ausgegeben, so viel wie nie zuvor.
Doch das ist keine Situation, auf der wir uns ausruhen können. Schon heute sind Singapur und die Schweiz uns weit voraus, und die kommunistische Führung Chinas hat in ihrem 14. Fünf-Jahresplan das Ziel der Technologieführerschaft in zahlreichen Schlüsseltechnologien als Ziel artikuliert, es bewegt sich damit stärker auf das Ziel der Autarkie zu als auf die Integration in die Weltwirtschaft. Die nächste Bundesregierung sollte Forschungsförderprogramme künftig besser auf die Anforderungen der Industrie und ihrer Partner aus der Wissenschaft zuschneiden, damit aus exzellenter Forschung auch rasch marktfähige Produkte entstehen können. Dies gepaart mit einer Ausweitung der steuerlichen Forschungsförderung und einer Stärkung der Attraktivität des Investitionsstandorts für privates Wagniskapital sind drei zentrale Bausteine.
Um die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen zu sichern, bedarf es nicht zuletzt auch einer international wettbewerbsfähigen Steuerbelastung der Unternehmen in Deutschland in Höhe von maximal 25 Prozent. Zudem muss der seit Jahren steigende Modernisierungs- und Innovationsstau bei digitaler und analoger Infrastruktur dringend reduziert werden. Mehr öffentliche Mittel sind dafür jedoch nur ein, wenn auch entscheidender Teil der Lösung. Es bedarf ebenso eines effizienten Mittelabflusses. Dafür sind wiederum Entbürokratisierung und Digitalisierung der Verwaltung unabdingbar.
Die deutsche Industrie leistet einen wesentlichen Beitrag für Deutschlands Resilienz und Zukunftsfähigkeit
Um es klar auszusprechen: Die deutsche Industrie sieht sich als Teil der Lösung und nicht als Teil des Problems. Durch ihren hohen Innovationsgrad und die stetige Anpassung von Prozessen und Geschäftsmodellen an sich verändernde Rahmenbedingungen leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Stärkung respektive Wahrung von Deutschlands Resilienz und Zukunftsfähigkeit. Während die deutsche und europäische Politik vielfach neidisch ins Silicon Valley blicken, verkennen sie nur allzu oft die Innovationsfähigkeit des eigenen Standorts.
Lassen Sie mich an diesem Punkt näher auf ein Beispiel aus der Industrie eingehen. Bereits vor der Coronakrise hingen 6,8 Prozent der Wertschöpfung im Bereich der Industrie und der industrienahen Dienstleistungen substanziell von der Nutzung digitaler Plattformen ab. Das entsprach in absoluten Zahlen 112 Milliarden Euro. Die deutsche Industrie ist dabei längst nicht so abhängig von Plattformbetreibern aus Drittstaaten wie allgemein angenommen.
Vier der vierzehn weltweit führenden Industrial Internet of Things-Plattformen werden laut einer Analyse von Forrester von deutschen Unternehmen betrieben. Mit diesen Business-to-Business-(B2B)-Plattformen leisten deutsche Unternehmen einen wertvollen Beitrag zur Implementierung von Industrie 4.0. Denn insbesondere Industrial Internet of Things-Plattformen und Datenmarktplätze ermöglichen die kosteneffiziente digitale Transformation von Geschäftsprozessen in der fertigenden Industrie. Beispiele sind Anwendungen wie das Condition Monitoring sowie das darauf aufbauende Predictive Maintanance. Die Covid-19-Pandemie verdeutlicht, dass Unternehmen, die frühzeitig in die Entwicklung digitaler Kompetenzen sowie Produkte und Dienstleistungen investiert haben, es während der Pandemie viel einfacher hatten, Kundenbedürfnisse zu bedienen, Logistikprozesse zu koordinieren, Zustandsüberwachung und Wartung aus der Ferne durchzuführen und Einkaufs- und Verkaufsprozesse fortzusetzen.
So lassen sich beispielsweise im Schnitt 20-30 Prozent an Betriebskosteneinsparungen durch den Einsatz von IIoT-Plattformen erzielen. Der Einsatz eines volldigitalisierten, plattformbasierten Einkaufsprozesses beispielsweise ermöglicht Kosteneinsparungen von bis zu 41 Prozent. Daneben werden über plattformbasierte Lösungen wartungsbedingte Ausfallzeiten von Maschinen gesenkt, die Kundenbindung über den Kauf einer Maschine hinaus verlängert und neue Lösungen basierend auf den Erfahrungen aus dem Nutzerverhalten entwickelt.
Nicht zu vergessen sind letztlich auch die ökologischen Vorteile einer plattformbasierten Digitalisierung der Wirtschaft. Noch immer ist die Lkw-basierte Logistik in Europa hochgradig ineffizient und störanfällig. Knapp 21 Prozent aller Transportfahrten in der EU werden leer durchgeführt. Die Lkw-Ladekapazität bleibt zu ca. 30-50 Prozent ungenutzt. Gleichzeitig erschweren schlechte Organisationsabläufe an den Be- und Entladerampen die Arbeitsbedingungen in der Branche. Durch den Einsatz von Sensoren, Datenanalysen sowie digitalen Plattformen wäre eine Lkw-Auslastung von 95 Prozent möglich. Durch die Reduktion von Leerfahrten lässt sich der unnötige Verbrauch fossiler Energieträger und damit der Ausstoß von CO2-Emissionen vermeiden. Zugleich wären Logistikprozesse besser planbar und die Versorgungssicherheit könnte auch in pandemischen Zeiten noch leichter gewährleistet werden.
Meine Bitte: Lassen Sie uns in Deutschland und Europa nicht ständig neidisch nach Osten oder Westen schauen, sondern selbstbewusst und ehrgeizig die Gegenwart und Zukunft gestalten. Zwischen dem üblichen Wahlkampfgetöse und der laufenden Corona-Krisenbewältigung müssen jetzt die Weichen zur langfristigen Stärkung der Resilienz des Standorts Deutschland gestellt werden. Dafür bedarf es einer ambitionierten Zukunftspolitik. Kurzum: Weniger Lethargie und Bürokratie, dafür mehr digitalaffiner Pragmatismus und Schaffensdrang sollten uns in der aktuellen digitalen Dekade leiten. Politik, Wirtschaft und alle Bundesbürger:innen sollten die digitale Transformation endlich als Chance begreifen. Doch dafür bedarf es mehr Ambition und Pragmatismus und weniger Auf-Sicht-Fahren.
Prof. Dr. Siegfried Russwurm