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Die deutsche Volkswirtschaft ist durch ein weltweit fast einzigartiges Industriemodell mit hoch erfolgreichen Leitbetrieben, „hidden champions“ und weit verzweigten Zulieferernetzwerken aus kleinen und mittelgroßen Unternehmen (KMUs) geprägt. Getragen wird der Erfolg dieses Industriemodells durch die Qualität der Produkte und Prozesse, die auch die Exportstärke der deutschen Industrie ausmachen. Bei der Entwicklung und Umsetzung neuer Technologien gehört Deutschland weiterhin international zur Spitzengruppe, wie der Global Competitiveness Report 2019 des World Economic Forum kürzlich wieder bestätigt hat.

Diese positive Momentaufnahme darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das deutsche Industriemodell und die damit verbundenen qualitativ hochwertigen Arbeitsplätze vor großem Innovations- und Veränderungsdruck steht.

Handlungsbedarf ergibt sich nicht bloß durch die Herausforderungen des Klimaschutzes, der eine weitaus stärkere Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Treibhausgasemissionen als bisher verlangt. Auch die Digitalisierung und die veränderten internationalen Marktkonstellationen (insbesondere die Systemkonkurrenz zu China und die Expansion des Silicon Valley in immer neue Geschäftsmodelle) erzeugen spürbaren Wettbewerbsdruck auf die Kernbereiche der deutschen Industrie. Exemplarisch sei hier die Unsicherheit darüber genannt, welchen Wertschöpfungsanteil Deutschland zukünftig in der Automobilindustrie für sich wird reklamieren können, wenn neue Antriebstechnologien und plattform- und KI-basierte Mobilitätsformen weiter an Bedeutung gewinnen.

Wir erleben derzeit einen globalen Wettlauf – der Economist nennt es gar einen „neuen kalten Krieg“ – um Technologieführerschaft. Vor vier Jahren wurde der „Made in China 2025“-Plan verkündet. China will in zehn wohl definierten Wirtschaftsbereichen zunächst unabhängig von Importen werden und dann bis circa 2050 die weltweite Marktführerschaft erlangen. Darunter sind auch aktuelle Schlüsselbereiche der deutschen Industrie wie der Maschinenbau oder die Medizintechnik.

Europa muss sich behaupten

Damit wird die strategische Industriepolitik des chinesischen Staates verstetigt, die schon seit Mitte der 1980er Jahre praktiziert wurde. In den USA galt seit 2017 die „America first“-Politik von Donald Trump. Sie ist eine Verteidigungsstrategie gegen China und will die momentane wirtschaftliche Hegemonialstellung der USA sichern und wenn möglich ausbauen. Der neue US-Präsident Joe Biden wird sich zukünftig wohl nicht derselben protektionistischen Mittel bedienen wie Trump. Aber seine Politik wird auch zukünftig Instrumente der strategischen Industriepolitik anwenden, um die wirtschaftliche Vormachtstellung der USA so lange wie möglich zu halten.

Europa kann in dieser Gemengelage nicht einfach zuwarten, wenn andere Länder ganz gezielt industrielle Schlüsselbereiche attrahieren und dominieren wollen, die momentan noch den Kern unseres Wohlstands ausmachen. Europa muss seinerseits aktiv darauf hinarbeiten, seine „absoluten Vorteile“ – also die technologische Vormachtstellung seiner Leitindustrien –  zu verteidigen. Diese Logik ist ähnlich wie in der wissenschaftlichen Literatur zur strategischen (spieltheoretisch begründeten) Zoll- und Handelspolitik.

Hierbei müssen aber die richtigen Instrumente zum Einsatz kommen. Sie dürfen nicht billig protektionistisch sein, dies verbietet sich aufgrund der extrem starken Exportorientierung des europäischen Wirtschaftsmodells von selber. Ebenso kann sie nicht den staatskapitalistischen chinesischen Ansatz kopieren. Auch die bewusste Schwächung des innereuropäischen Wettbewerbs durch eine Lockerung von Fusionsregeln oder die Schaffung „europäischer Champions“ sind der falsche Weg. Eine zielführende industriepolitische Strategie muss aus konstruktiven Maßnahmen bestehen. Europa muss sich dabei auf seine Stärken besinnen und diese gezielt und spürbar ausbauen.

Dies gelingt nur durch neue, bessere, nachhaltigere oder sicherere Produkte. Insbesondere wird es zukünftig darum gehen, dass sich die Industriebetriebe viel stärker als bisher dekarbonisieren und digitalisieren und die in ihren Produktionsprozessen anfallenden Daten zur Verbesserung ihrer Produkte und Prozesse nutzen. Diese zentrale Wertschöpfungskomponente sollte nicht bloß durch importierte Vorleistungen (etwa von amerikanischen Internetkonzernen) gedeckt, sondern im Sinne einer europäischen digitalen Souveränität maßgeblich auch durch heimische Anbieter befriedigt werden können.

Eine gute Industriestrategie ist eine Investitionsstrategie

Solche Schritte auf der Qualitätsleiter gibt es aber nicht umsonst. Sie erfordern massive Investitionen. Zu allererst von den Unternehmen selber, aber komplementär dazu auch vom Staat. Die Bereitschaft zu einer großangelegten Investitionsstrategie zur Zukunftssicherung des Industriemodells ist bislang aber kaum vorhanden. Zwar gibt es reihenweise kleinere Förderungen von Grundlagenforschung und Pilotprojekten. Das zentrale Problem liegt jedoch an der Schnittstelle von Forschung und Produktion uns insbesondere bei der Skalierung von Pilottechnologien in der Massenfertigung. Hier hapert es.

Ein Beispiel: schon heute ist grüne Stahlproduktion möglich. Allerdings lohnt sich der Einsatz betriebswirtschaftlich in der Breite noch nicht, da die Kosten mehr als doppelt so hoch liegen wie bei konventioneller Produktionsweise.

Zentraler Schlüssel für die Transformation dieser Industrie ist zunächst ein höherer und planbar ansteigender CO2-Preis. Allerdings würde die grüne Stahlproduktion derzeit erst bei einem Preis von rund 150 Euro pro Tonne betriebswirtschaftlich rational. Ein solcher Preis ist kurzfristig kaum realistisch und würde zu großen gesellschaftlichen Disruptionen führen, wenn er einheitlich gültig wäre.

An dieser Stelle kann Industriepolitik helfen. Zunächst geht es darum, branchenunabhängig die Verfügbarkeit von grünem Strom massiv auszubauen und dadurch die Kosten klimafreundlicher Industrieproduktion zu vergünstigen. Ohne die Energiewende ist jede industrielle Transformation praktisch unvorstellbar.

Branchenspezifische Industriepolitik kann zu weiterer Beschleunigung führen. So könnte der Staat die Kostenunterschiede zwischen konventioneller und grüner Stahlproduktion für einen gewissen Zeitraum durch eine Subvention ausgleichen (sog. „contracts for difference“) und damit die privatwirtschaftlichen Investitionen bereits heute lohnenswert machen.

Die Logik basiert darauf, dass ein frühzeitiges Ausrollen dazu führen wird, dass Europa seinen Status als Weltmarktführer bei dieser Zukunftstechnologie markieren und Lernkurveneffekte frühzeitig realisieren kann. Dieser Wettbewerbsvorteil kommt dann auch anderen Branchen entlang der Wertschöpfungskette zu Gute, nicht zuletzt der Automobilindustrie.

Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass die Finanzierung solch transformativer Investitionen die originäre Aufgabe des privaten Bankensektors ist. Allerdings hat der Vorstandschef der Deutschen Bank kürzlich darauf hingewiesen, dass diese Investitionen sehr risikoreich und deshalb für den europäischen Kapitalmarkt kaum zu schultern sind. Daher sei ein stärkeres staatliches Engagement bei der Risikoübernahme – sprich: Industriepolitik – unumgänglich.

Dies mag man beklagen, offenbart es doch die Defizite des europäischen Kapitalmarkts recht deutlich. Das Wehklagen sollte indes nicht dazu führen, die Investitionen auf die lange Bank zu schieben und die Technologieführerschaft dadurch letztlich anderen zu überlassen.

Die Gefahren von Industriepolitik

Warum sind Europa und Deutschland so zögerlich? Ein Grund sind zu restriktive Fiskalregeln. Im Gegensatz zur Lockerung von Fusionsregeln kosten Transformationssubventionen viel Geld. Diese Investitionen sind im aktuellen globalen Marktumfeld wahrscheinlich nötig und eine Finanzierung der flankierenden staatlichen Subventionen über Schuldenaufnahme wäre im derzeitigen Zinsumfeld unschlagbar günstig. Diese Umstände werden aber ignoriert. Denn die starren Fiskalregeln fragen bei Neuverschuldung weder, wofür das Geld eigentlich ausgegeben werden soll, noch wieviel es kostet.

Weitere systematische Probleme kommen hinzu. Erstens geht es um die richtige Ausgestaltung von Institutionen. Es ist relativ einfach, im Zuge der Transformation Projekte zu identifizieren, die für das Industriemodell mutmaßlich bedeutsam sind und die deshalb für staatliche Transformationssubventionen potentiell in Frage kämen. Aber Pläne können sich im im weiteren Verlauf als Holzweg entpuppen. Nachdem viele Kosten versenkt wurden, ist der Weg raus aus einem Projekt erfahrungsgemäß aber schwieriger als der Weg hinein. Deshalb muss von vorneherein über ein kluges Design nachgedacht werden, das einen Ausstieg anhand objektiver Kriterien möglich macht, ohne an den politischen Realitäten zu scheitern.

Außerdem muss das Element der Risikodiversifikation eine Rolle spielen. Nicht jedes einzelne Projekt muss performen, aber das Portfolio insgesamt muss es tun. Jeder private Risikokapitalgeber weiß das, bei Transformationsinvestitionen im Zuge der vertikalen Industriepolitik ist es letztlich ähnlich.

Schließlich gibt es das Problemfeld der europäischen Beihilferegeln. Selbst wenn Deutschland bereit wäre, für die Modernisierung seines Industriemodells ordentlich Geld auf den Tisch zu legen, bisweilen dürfte es das gar nicht. Denn andere EU-Mitgliedsstaaten könnten darauf verweisen, dass sie nicht im gleichen Ausmaß zu solchen Unterstützungsmaßnahmen in der Lage sind und deutsche Unternehmen dadurch Wettbewerbsvorteile erlangen würden. Hier trifft die Notwendigkeit zur Industriepolitik, die sich aus den Bedingungen des globalen Wettbewerbs ergibt, auf die Divergenzen innerhalb des Binnenmarktes.

Wo immer es möglich ist, sollte Industriepolitik daher auf europäischer Ebene praktiziert werden. Am einfachsten wäre das wohl möglich, wenn man endlich zu der ehrlichen Einsicht gelangt, dass der EU Wiederaufbaufonds keine einmalige Veranstaltung zur Bewältigung der Corona-Krise bleiben darf. Er muss zu einem dauerhaften Instrument der europäischen Transformationspolitik weiterentwickelt werden. Letztlich ist das wohl auch politisch realistischer als endlos am bestehenden Regelwerk der nationalen und europäischen Fiskal- und Beihilferegeln zu flicken.

 

Prof. Dr. Jens Südekum