Deutschland ist eine Industrienation. Wir sind stolz, dass viele große Unternehmen des Weltmarktes aus Deutschland kommen. Besonders stolz sind wir auf die etwa 1700 kleineren Unternehmen, die in ihrem jeweils spezifischen Segment Weltmarktführer sind, die sog. Hidden Champions.
Digitalisierung als Chance
Die deutsche Industrie ist gekennzeichnet durch die Entwicklung so vieler großer Unternehmen aus Familienbetrieben. Henschel, Voith, Vaillant, Mercedes Benz, Siemens, Henkel, Oetker, Bahlsen, B. Braun, Bayer, Boehringer, Merck – die Liste der Namen ließe noch deutlich verlängern.
Alle diese Betriebe, und natürlich allen anderen auch, müssen sich mit den Folgen der Digitalisierung für ihr Unternehmen auseinandersetzen. Und um Digitalisierung und Industrie 4.0 als Chance zu begreifen und zu nutzen, braucht es zweierlei:
Zum einen brauchen wir ein gemeinsames Verständnis darüber, was gerade passiert und was möglich ist. Digitalisierung ändert die Regeln für die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen – und das in einem Tempo, das uns oft erschreckt. Die Digitalisierung führt zu enormen Veränderungen in jedem Bereich unseres Lebens. Egal, ob im Geschäftsleben oder der Arbeitswelt, im Kaufverhalten oder der Kommunikation, in der Gesellschaft oder in den Medien. Alle Bereiche sind betroffen und jede und jeder muss wissen: alles, was digitalisiert werden kann, wird auch digitalisiert werden.
Zum anderen ist klar – diese Herausforderungen kann der Nationalstaat nicht alleine bewältigen. Kooperation, gemeinsame Initiativen – innerhalb Deutschlands, Europas und der Welt sind unabdingbar erforderlich. Denn Digitalisierung wird nicht durch Staatsgrenzen begrenzt, der Datenfluss kennt keine Grenze. Dementsprechend ist auch die Gestaltung der Bedingungen für die Entwicklung der Digitalisierung nicht durch die Entscheidung eines nationalen Parlaments möglich. Es braucht internationale Allianzen, das globale Wachstum muss durch globale Regeln ermöglicht und strukturiert werden.
Die Welt ist unterschiedlich
Wenn wir uns in der Welt umschauen, stellen wir schnell fest, dass es in den verschiedenen Regionen und Ländern dieser Welt unterschiedliche industrielle Traditionen und unterschiedliche unternehmerische Kulturen gibt. Dem entspricht ein unterschiedliches Verständnis von Datenschutz, Arbeitnehmerrechten und Ordnungspolitik.
Ebenso sehen wir, dass die Wege in die Digitalisierung unterschiedlich verlaufen sind. Während in den USA und in China große Plattformen entwickelt wurden, hat Europa und insbesondere Deutschland den industriebezogenen Ansatz gewählt. Mit einem industriellen Anteil von etwa 24% gegenüber 18 % in den USA oder 15 % im Rest von Europa liegt es auch nahe, dass wir unsere Anstrengungen auf den Erhalt der Arbeitsplätze in der industriellen Produktion richten.
Aber wenn wir in der Zeit der digitalen Transformation industrielle Arbeitsplätze erhalten wollen, muss sich die Arbeit in den Fabriken ändern. Wir müssen die Software in die Hardware integrieren und damit neue, zusätzliche Angebote schaffen. Disruption liegt allerdings nicht in der deutschen industriellen DNA. Uns geht es seit jeher um reale Produkte, reale Arbeit, reale Innovation und reale Wertschöpfung.
Es bleibt nicht viel Zeit
Der Umbau unserer Industrie muss möglichst schnell erfolgen, denn wir wissen, dass der digitale Wandel auch rasant vorangeht. 2030 werden weltweit schätzungsweise 500 Milliarden Geräte vernetzt sein. Das sind 25mal mehr als heute. Auf jeden Menschen kämen dann rechnerisch etwa 60 vernetzte Objekte, Maschinen und Sensoren. Dadurch wiederum entsteht eine gigantische Menge an digitalen Daten. Natürlich können diese Daten nur dann sinnvoll verarbeitet werden, wenn auch das Wachstum der Rechnerleistung Schritt hält. Nach wie vor geht man davon aus, dass es alle anderthalb Jahre zu einer Verdoppelung der Leistung kommt. Diese Entwicklung ist umfassend und gilt natürlich auch für die deutsche Industrie.
Während weltweit der Prozess der Integration von Software in Hardware als „Internet ofthings“ (IoT) bezeichnet wird, hat Deutschland auf der Hannover-Messe 2011 den Begriff Industrie 4.0 für diesen Begriff geprägt. Auch mithilfe dieser Begriffsbildung, die inzwischen international bekannt ist und international benutzt wird, ist es gelungen, Deutschland als einen entscheidenden Player bei der Umstrukturierung der Industrie durch digitale Anwendungen weltweit zu etablieren.
Die Politik hat dieses Vorgehen immer unterstützt, insbesondere in der Legislaturperiode 2013- 2017, als Sigmar Gabriel und dann ich selbst Wirtschaftsminister war. Die Plattform Industrie 4.0 haben wir dank der Initiative von Matthias Machnig auf eine breitere gesellschaftliche und politische Basis gestellt. Unternehmen, Gewerkschaften, Verbände und Wissenschaft saßen von da an mit am Tisch. Denn uns war immer klar: Wir brauchen einen breiten gesellschaftlichen Konsens für die anstehenden Veränderungen.
Eine weitere wichtige Maßnahme, um insbesondere dem deutschen Mittelstand die Veränderungen durch die Digitalisierung vor Augen zu führen, war die Errichtung der Mittelstand 4.0 Kompetenzzentren in Deutschland. 26 Kompetenzzentren mit unterschiedlichen Schwerpunkten wurden verteilt auf Deutschland errichtet. Dort findet die Unternehmerin und der Unternehmer eine kompetente Anlaufstelle zur Information, Sensibilisierung und Qualifikation. Insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen sowie Handwerksbetriebe werden durch Praxisbeispiele, Demonstratoren und Informationsveranstaltungen an den Vorteil der Digitalisierung für Ihr spezifisches Unternehmen herangeführt.
Die Aufmerksamkeit der Industrie und des Mittelstandes auf die Veränderungen durch die Digitalisierung und insbesondere auf die Industrie 4.0 zu lenken, glückte also im Großen und Ganzen.
Mehr Disruption?
Aber es blieb die Frage: lenken wir den Blick zu sehr auf die Veränderung der Prozesse in der Produktion und der Logistik und zu wenig auf neue Ideen?
Kann ein Unternehmen, dass sehr viele Jahre, gar Jahrzehnte damit verbracht hat, ein bestimmtes industrielles Produkt immer noch ein bisschen besser zu machen, überhaupt auf die Idee kommen, dieses Produkt durch eine digitale Anwendung zu ersetzen? Digitalisierung beinhaltet Disruption und das bedeutet, dass das eigene Geschäftsmodell obsolet und durch ein digitales Geschäftsmodell ersetzt wird.
Sind unsere bedeutenden deutschen Unternehmen in der Lage, sich aus sich heraus in dieser Weise in Frage zu stellen?
Man kann berechtigte Zweifel daran haben, ob diese Frage vorbehaltlos mit Ja beantwortet werden kann.
Deshalb ist es für die Transformation der deutschen Industrie essenziell, dass die Unternehmen sich bei Startups darüber informieren, wie man Fragestellungen im Zeitalter der Digitalisierung auch anders beantworten kann. Gerade weil es schwierig ist, sich komplett neben sich zu stellen und die Dinge völlig anders zu denken, ist es unabdingbar, dass man sich in der Startup Szene umschaut: Was gibt es dort für Ideen, die man für das eigene Geschäftsmodell nutzen kann beziehungsweise welche Ideen helfen, das eigene Unternehmen in das digitale Zeitalter zu führen?
Heute kann man sagen, dass die allermeisten der großen Unternehmen oder Hidden Champions die Bedeutung der Zusammenarbeit erkannt haben und entsprechend handeln. Sie lösen das Problem allerdings unterschiedlich. So gibt es Eigentümerfamilien, die einen Teil ihres Vermögens in ein family office gegeben haben mit dem Auftrag, Startups zu finden, deren Idee oder Produkt für das Unternehmen nutzbringend im Transformationsprozess sind.
Andere Unternehmen haben eine Abteilung in ihrem Unternehmen gebildet, die sich mit der Suche nach passenden Startups befasst. Wieder andere informieren sich lediglich punktuell. Inzwischen haben sich auch Startups gebildet, die die Vernetzung von Startups mit etablierter Industrie zum Geschäft machen. Glassdollar zum Beispiel sucht für seine Kunden aus der Industrie gezielt Startups aus und führt beide zusammen.
Im Bundeswirtschaftsministerium haben wir 2014 die Startup Nights begründet. Damals war die Notwendigkeit der Zusammenarbeit von Startups mit etablierter Industrie noch kein Allgemeingut und wir wollten gerne von staatlicher Seite deutlich machen, dass wir die Verknüpfung beider aus den oben dargestellten Gründen für erforderlich halten. Es waren immer themenbezogene Abende wie z.B. zur Gesundheit, Energie, Luft- und Raumfahrt oder auch Afrika. Abgesehen davon, dass es immer spannend war zu sehen, was es für tolle Ideen in Deutschland gibt, haben sich viele gute Anknüpfungspunkte für eine Zusammenarbeit aus den Abenden ergeben.
Von Start-Ups zum Mittelstand?
Für viele Startups ist der Exit das Ziel ihrer Wahl. Und wenn schon Exit, ist es natürlich im Interesse Deutschlands viel besser, wenn deutsche Unternehmen die Startups aufkaufen und die Ideen hier im Land zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit dienen.
Mir wäre es allerdings noch lieber, wenn sich aus den Startups von heute der Mittelstand von morgen entwickeln würde. Dafür allerdings braucht es zweierlei: Gründerinnen und Gründer, die ihr Unternehmen behalten und großmachen wollen und die finanziellen Bedingungen, um in Deutschland ordentliche Finanzierungsrunden durchzuführen. Zwar gibt es inzwischen, organisiert vom Staat, nicht nur das „Invest Programm-Zuschuss für Wagniskapital“, das Exist Gründungsstipendium, den ERP Gründerkredit, den Micromezzaninfonds, Coparion und den High-Tech Gründerfonds. Im Zuge der Pandemie gab es auch 2 Mrd.€ im Wege eines Start-up-Boosters als Unterstützung für junge innovative Unternehmen.
Gleichwohl wird beklagt, dass in Deutschland zu wenig Kapital unterwegs ist, um nach der Investitionsfrühphase die Expansion Stages mit Geld aus Deutschland zu bestreiten. Das stimmt sicher. Aber für mich ist auch klar: Der Staat alleine kann nicht alles richten. Es bedarf auch einer Bereitschaft unter den Vermögenden Deutschlands, sich finanziell zu engagieren.
Denn gute Ideen gibt es zweifelsfrei in Deutschland und auch gute Entwicklungen, die dann allerdings oft nicht in Deutschland zur Marktreife geführt werden – man denke nur an den MP3-Player oder das FAX Gerät.
Darüberhinaus ist es gerade für die ganz überwiegend im ländlichen Bereich angesiedelten Hidden Champions unabdingbar, dass die Infrastruktur im Digitalisierungsprozess nicht zu einem limitierenden Faktor wird. Da hat die Bundesregierung nach wie vor Hausaufgaben zu machen!
Brigitte Zypries