Eine produktive Ökonomie braucht technologische und soziale Innovationen

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Dr. Arno Brandt Politischer Berater und Publizist
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Deutschland und Europa stehen in den kommenden Jahren vor fünf großen Herausforderungen: die Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie, der Klimawandel, die digitale Transformation, der demografische Wandel und die Entwicklung eines europäischen Wirtschaftsmodells als Antwort auf die digitalkapitalistischen Wirtschaftssysteme der USA und Chinas. Aus ökonomischer Perspektive wird es vor diesem Hintergrund in den kommenden Jahren ganz entscheidend darum gehen, die Rolle der Produktivität und die mit ihr verbundene wirtschaftliche Dynamik in den Fokus des wirtschaftspolitischen Handelns zu nehmen. Paul Krugman hat einmal gesagt, dass Produktivität nicht alles, aber auf lange Sicht fast alles sei.

Produktivität steigern

In den zurückliegenden Jahrzehnten war der Trend abnehmender Zuwachsraten der Produktivität trotz der auf breiter Front voranschreitenden Digitalisierung unverkennbar, so dass Ökonomen in diesem Zusammenhang von einem Produktivitätsparadox sprechen. Ohne Produktivitätszuwächse werden aber die Kosten der Pandemie, die erforderlichen Investitionen in eine klimaneutrale Zukunft, die Sicherung menschenwürdiger Renten oder die Finanzierung der erforderlichen Transfers innerhalb der EU kaum zu finanzieren sein.

Für die gesamtwirtschaftliche Produktivität ist immer noch die industrielle Basis von entscheidender Bedeutung. Alexander Eickelpasch (DIW) hat in seinen Arbeiten zu den vor- und nachgelagerten Verflechtungen der Industrie gezeigt, dass fast die Hälfte der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland zum „Netzwerk Industrie“ zählen. Mit dem Trend zur hybriden Wertschöpfung wird zudem der Übergang von der Industrie zu den Dienstleistungen immer fließender. Damit hat der industrielle Sektor mit seinen industrienahen Dienstleistungen eine Schlüsselstellung für die wirtschaftliche Entwicklung der Gesamtwirtschaft.

Ein zentraler industriepolitischer Ansatzpunkt ist der Aufbau neuer Beschäftigungsfelder in solchen Wirtschaftsbereichen, die maßgeblich zur Bewältigung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen beitragen. Dies setzt voraus, dass sich die zukünftige Industrie- und Innovationspolitik an den gesellschaftlich gewünschten Wirkungen von Investitionen und Innovationen ausrichtet. Dieser ursprünglich von Mariana  Mazzucato entwickelte Ansatz folgt den Empfehlungen des Hightech-Forums des BMBF, nach denen staatliche Maßnahmen, die über Nachfrage Innovationen anstoßen, als zentraler Bestandteil einer missionsorientierten Innovationspolitik zu verstehen sind.

Auch die EU-Kommission hat mit ihren aktuellen Weichenstellungen in der Struktur- und Klimapolitik (European Green Deal) diesen auftragsorientierten Ansatz aufgegriffen. Der entscheidende Unterschied zu den bisherigen industrie- bzw. strukturpolitischen Strategien liegt zum einen darin, dass der Staat durch öffentliche Investitionsprogramme und Beschaffung seine Rolle als Nachfrager und Treiber von Innovationen stärkt. Zum anderen werden auf diese Weise deutlich größere Budgets mobilisiert und die kleinteiligen und engmaschigen Förderansätze und die auf kurze Fristen angelegten Modellvorhaben überwunden. Durch ihren Bezug auf gesellschaftliche Bedarfsfelder werden zudem die offenkundigen Legitimitätsdefizite traditioneller Industrie- und Strukturpolitik abgebaut.

Neue Strategie nötig

Im Rahmen dieser Strategie geht es um die innovative Verknüpfung der Zukunftsfelder Mobilität, Wind- und Solarenergie, grüner Wasserstoff, Kreislaufwirtschaft und weiterer Wirtschaftsbereiche, um die großen Transformationen der Gegenwart und der Zukunft zu ermöglichen. Wer das Produktivitätsrätsel entschlüsseln will, braucht eine industriepolitische Strategie, die wirtschaftliche Prosperität von den Schadstoffemissionen und dem Ressourcenverbrauch entkoppelt. Im Rahmen von multisektoralen öffentlich-privaten Kooperationen, die im Zusammenspiel von Wirtschaft, Wissenschaft, Staat und Zivilgesellschaft stattfinden, müssen die vorhandenen Risiken geteilt und die erforderlichen technologischen und sozialen Innovationen vorangetrieben werden.

Ein Fokus auf technologische Innovationen allein wird keine Ära nachhaltiger Prosperität einläuten. Auch technologische Basisinnovationen führen für sich nicht zu langen Wellen wirtschaftlichen Wachstums. Technologische Innovationen sind eine notwendige, aber noch keine hinreichende Voraussetzung, um Produktivitätszuwächse über längere Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung zu begründen. Dazu bedarf es jeweils umfassender institutioneller Arrangements. Erst vor kurzem hat Jens Südekum darauf hingewiesen, dass stabile industrielle Beziehungen für erfolgreiches Wirtschaften von zentraler Bedeutung sind. Durch auf Langfristigkeit angelegte Arbeitsverträge entstehen gegenseitiges Vertrauen und letztlich handfeste Produktivitätsvorteile.

Eine Vielzahl ökonomischer Studien kommt mittlerweile zu dem Ergebnis, dass die betriebliche Mitbestimmung die Investitionen von Unternehmen befördert und die Produktivität steigert. Den großen Vorteil, über den die deutsche Wirtschaft mit ihrer dualen Ausbildung verfügt, gilt es, mit einer Reform der beruflichen Weiterbildung zu unterstützen, um die Durchlässigkeit des Systems der beruflichen Bildung deutlich zu erhöhen und eine größere Flexibilität der Arbeitnehmer im Laufe ihres Erwerbslebens zu ermöglichen. Eine expansive Infrastrukturpolitik schafft mit ihren Kollektivgütern elementare Voraussetzungen für eine dynamische Wirtschaft und ein gutes Alltagsleben der Menschen. Der Sozialstaat ist nicht nur Resultat erfolgreicher Wertschöpfung, sondern umgekehrt auch die Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg. Er reduziert die sozialen Risiken des technologischen Wandel und schafft daher Raum für Innovation. Sozialstaatliche Sicherungssysteme verhindern, dass die Angst vor Arbeitsplatzverlusten zur treibenden gesellschaftlichen Kraft wird und damit den innovatorischen Wandel blockiert.

Es sind diese Institutionen, an die eine moderne Industriepolitik anknüpfen kann und die es weiterzuentwickeln gilt. Die Digitalisierung und Dekarbonisierung der Ökonomie erfordern progressive Strukturreformen, die eine gesellschaftliche Einbettung von Märkten ermöglichen. Die Politik in Deutschland kann damit auch Impulse für ein gemeinsames europäisches Wirtschaftsmodell setzen, das angesichts der Entwicklungspfade der US-amerikanischen und chinesischen Kapitalismen immer dringlicher auf die politische Agenda gehört. Für eine solche Reformpolitik bedarf es einer politischen Kraft, die Willens ist, die notwendigen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Veränderungen einzuleiten.

 

 Dr. Arno Brandt