Ohne Realismus keine erfolgreiche Transformation

©Anait Sagoyan
Marc Saxer Leiter des Asianreferats der Friedrich-Ebert-Stiftung und Mitglied der Grundwertekommission der SPD
©
iStock bluejayphoto

 

 

Zeit für eine realistische Transformation des deutschen Wirtschaftsmodells

Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Demokratiekrise, Klimakrise, Coronakrise. Die Welt wird von einer Reihe miteinander verwobener Krisen erschüttert, die sich zu einer umfassenden Systemkrise verdichten. Um diese Systemkrise zu überwinden, reichen punktuelle Korrekturen nicht mehr aus. Vielmehr sind Paradigmenwechsel in der Art, wie wir produzieren, konsumieren, arbeiten oder zusammenleben nötig. Diese notwendigen Pfadwechsel scheitern jedoch bisher am Widerstand der Kräfte des Status Quo.

In Deutschland versammelt sich eine Status Quo Allianz aus Politik, Exportindustrie, Großbanken, Wissenschaft und Mittelschicht um das Narrativ des Exportweltmeisters. Im freien Verkehr von Waren, Kapital, Arbeit und Menschen sieht sie den Schlüssel zu Deutschlands Wohlstand. Ein breites Bündnis sozialer Milieus und ihren politischen Vertretungen organisierte über Jahrzehnte die Unterstützung des „marktkonformen Staates“, für das exportgetriebene Entwicklungsmodell.

Der Agenda der „Standortsicherung“ wurden alle anderen gesellschaftspolitischen Belange untergeordnet. Den Preis für die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland – Lohnunterdrückung und Beschneidung von Wohlfahrtsleistungen – haben die Transferempfänger im untersten Drittel der Bevölkerung zu tragen. Am Widerstand dieser Status-quo-Allianz scheiterten Pfadwechsel wie die Energie- oder Mobilitätswende, die europäische Fiskalunion, ein solidarischer Arbeitsmarkt oder die Heranziehung großer Vermögen zur Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben.

Ende einer Strategie?

Aber die Strategie des Exportweltmeisters, neue Märkte rund um den Globus zu erschließen, stößt nun an ihre Grenzen. Schon seit Längerem deutet sich an, dass die Globalisierung ihren Höhepunkt überschritten haben könnte. Seit der Finanzkrise 2008 geht es mit dem globalen Handel und grenzüberschreitenden Investitionen nicht mehr so richtig aufwärts.

Hinter diesem Trend zur Deglobalisierung stehen handfeste geopolitische Gründe. Lange hing der Westen der Hoffnung an, Handel werde zu Wandel in Peking führen. China hat jedoch sein Versprechen, den eigenen Markt für Wettbewerber zu öffnen, nicht eingelöst. Pekings merkantilistische Industriepolitik zielt ganz offen auf die Dominanz Chinas in den Hochtechnologien der Zukunft. Der Technologiewettbewerb verschärft den Hegemoniekonflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China. In Washington besteht ein parteiübergreifender Konsens, die amerikanische von der chinesischen Volkswirtschaft zu entkoppeln, um den Konkurrenten um die globale Vorherrschaft nicht noch weiter zu stärken.

Die Trump-Regierung versuchte daher Chinas Entwicklung zu verlangsamen. Um die unwilligen Verbündeten auf Linie zu bringen, wurden sämtliche Machthebel in Bewegung gesetzt. Einen Vorgeschmack darauf, wie groß der amerikanische Druck auf die Verbündeten sein kann, haben die Europäer in der Auseinandersetzung um den Ausschluss des chinesischen Technologiekonzerns Huawei vom Aufbau der 5G-Infrastruktur bekommen. Eine Biden-Regierung dürfte zwar versuchen, das Verhältnis zu den Verbündeten zu reparieren. In der Substanz wird sich aber an dem mit harten Bandagen geführten Konkurrenzkampf mit China wenig ändern.

Die Coronakrise hat nun auch in Europa das Bewusstsein für die Verwundbarkeit globaler Lieferketten geschärft. Auch wenn die Europäer bisher nicht bereit sind, sich von China zu entkoppeln, dürften sie dennoch ihre Lieferketten weiter diversifizieren und Pufferkapazitäten schaffen, um einseitige Abhängigkeiten zu reduzieren und die Volkswirtschaften krisenfester zu machen. Damit beschleunigt sich der Paradigmenwechsel in der globalen Arbeitsteilung, weg von der Effizienz (just in time) hin zu mehr Resilienz (just in case).

What’s next?

Die Welt, die aus den Trümmern der Hyperglobalisierung entsteht, könnte in rivalisierende Blöcke zerfallen. Damit ist nicht der Rückfall in die Mentalität des Kalten Krieges mit seinen Eisernen Vorhängen zwischen ideologischen Systemrivalen gemeint. Die Weltwirtschaft wird weiter vernetzt bleiben. Wohl aber könnten sich Volkswirtschaften unter der Führung eines regionalen Hegemons zusammenschließen, um sich unliebsame Konkurrenten durch inkompatible Normen und Standards, Technologieplattformen und Kommunikationssysteme, Marktzugangsschranken und Infrastruktursysteme vom Hals zu halten. Wahrscheinlichstes Ergebnis der Deglobalisierungstendenzen ist nicht der Rückfall in nationalstaatliche Autarkie, sondern die Regionalisierung von Lieferketten und Märkten.

Die Coronakrise beschleunigt zudem die Ersetzung von Menschen durch Maschinen. Die Automatisierung der Produktion in den alten Industrieländern untergräbt den komparativen Kostenvorteil der späten Industrialisierer. Entnervt von langen Lieferketten, lokaler Korruption, politischer Einmischung und Industriespionage haben bereits die ersten Hersteller damit begonnen, ihre Fertigung näher an ihre Heimatmärkte zu verlegen (near-shoring). In den großen Schwellenländern mag die Notwendigkeit, im Markt präsent zu sein, diesen Rückverlagerungstendenzen zwar entgegenstehen. In den kleineren Ländern verliert jedoch die Arbeitskostenersparnis, immerhin das zentrale Motiv des ersten Globalisierungsschubes, im Kalkül der Investoren an Bedeutung. Fallen sie aus den globalen Lieferketten heraus, steht das Entwicklungsmodell vieler Schwellenländer infrage.

Mit der Aufgabe des Transpazifischen Partnerschaftsabkommen hatte der America-First-Protektionist im Weißen Haus ein klares Signal gesendet, dass er den Zugang zum amerikanischen Markt nicht nur für China, sondern für alle asiatischen Exporteure beschränken will. Auch ein demokratischer Präsident muss den großen Unmut vieler Amerikaner über den Freihandel berücksichtigen. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass die Amerikaner wieder ihre ehemalige Rolle als Konsumlokomotive der Welt einnehmen werden.

Verschließen sich die westlichen Absatzmärkte für die Exportnationen Asiens, werden ihre heimischen Märkte überlebensnotwendig. Länder mit großen Binnenmärkten wie China oder Indien haben bereits damit begonnen, ihre Entwicklungsmodelle von der Exportabhängigkeit auf den heimischen Konsum umzustellen. Mit offenen oder versteckten Marktzugangsschranken versuchen sie, internationale Konkurrenz zu verdrängen. Die Logik der Abschottung wirkt also in beide Richtungen. Je weiter sich die Volkswirtschaften des Westens abriegeln, desto mehr Zugangsbeschränkungen werden westliche Unternehmen auf den asiatischen Märkten vorfinden. In einer solchen Welt kann es keine Exportweltmeister mehr geben.

Schon in der letzten Krise ist der deutsche Versuch, sich aus der Rezession »herauszuexportieren«, an seine Grenzen gestoßen. Nicht nur die Vereinigten Staaten, auch Frankreich und die Südeuropäer reiben sich zunehmend an den deutschen Exportüberschüssen. Setzen sich die protektionistischen Tendenzen in den Absatzmärkten fort, muss Deutschland sein Wirtschaftsmodell überdenken.

Stottert der Wachstumsmotor, verschärfen sich Verteilungskonflikte. Bis in die Mittelschichten hinein wächst die Angst vor dem sozialen Absturz. Diese Abstiegsängste sind der Resonanzboden, den Populisten für ihre Agitation gegen die Erfolgsbedingungen des Exportmodells, den freien Fluss von Waren, Kapital, Menschen und Ideen, nutzen.

Die Debatten um die Verschlechterung der geoökonomischen Erfolgsbedingungen des deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells haben daher den akademischen Raum verlassen und werden zunehmend im öffentlichen Diskurs aufgegriffen. In der Wirtschaft und bei den Gewerkschaften sind die Debatten um Entkopplung und Resilienz längst im Gange. Eine Mehrheit der Unternehmen widersetzt sich zwar dem amerikanischen Druck, sich von China zu entkoppeln. In der Wirtschaft setzt sich aber die Einsicht durch, dass in einer protektionistischeren Welt der heimische europäische Markt überlebenswichtig wird. Auch die Zustimmung der Kanzlerin zur Aufnahme gemeinsamer Schulden, die sie seit der Eurokrise vehement bekämpft hatte, ist der Einsicht geschuldet, dass sich die deutsche Wirtschaft nicht erholen kann, wenn ihre Absatzmärkte im Süden Europas dauerhaft in der Krise gefangen bleiben. Vorbereitet wurde diese Kehrtwende durch einen Paradigmenwechsel in der deutschen Wirtschaftswissenschaft, die im Angesicht der drohenden säkularen Stagnation ihre Vorbehalte gegen das Schuldenmachen relativiert hat.

Nun Chance für Neuordnung?

Die Verschiebung der internationalen politischen Ökonomie eröffnet die Chance einer Neuordnung der gesellschaftlichen Allianzen in Deutschland. Sollte die Industrie sich auf den europäischen Markt und seine Nachbarn konzentrieren, dürften die Industriegewerkschaften ihre Interessen ebenfalls neu sortieren. Kommen die Sozialpartner zu der Auffassung, dass sich das deutsche Wirtschafts- und Sozialmodell verändern muss, um in einer sich wandelnden Welt bestehen zu können, wird sich die Politik dieser Einsicht nicht verschließen. In den politischen Parteien gewinnen Stimmen an Bedeutung, die einer langfristigen Rolle des Staates als Investor und Konsument zur Stärkung der aggregierten Nachfrage das Wort reden. Von ganz links bis tief ins bürgerliche Lager hinein bildet sich ein Konsens, dass die teuren Konjunkturpakete nicht nur das Bestehende absichern, sondern die Grundlage für zukünftiges Wachstum legen sollten. Rund um die sozial-ökologische Transformation können sich Industrie und Gewerkschaften, Wissenschaft und soziale Bewegungen, die linksliberale Mittelschicht und die verantwortungsethischen Konservativen versammeln.

Gelingt es, eine breite gesellschaftliche Allianz für ein nachfrageorientiertes Entwicklungsmodell zu schmieden, eröffnen sich große Potenziale für progressiven Fortschritt. Höhere Löhne, der Wiederausbau der Daseinsvorsorge in die Fläche, die Stärkung der sozialen Sicherheitsnetze und weitere Schritte zur Integration Europas sind Projekte, die nun mehrheitsfähig werden könnten.

 

Im März erscheint sein Buch „Transformativer Realismus. Zur Überwindung der Systemkrise“ im J.H.W. Dietz Nachf. Verlag.

 

Marc Saxer