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Wirtschaft frei von Kohlenstoff – das ist kein Widerspruch in sich. Das kohlenstoffneutrale Zeitalter ist längst eingeläutet. Aber noch nicht alle hören die Glocken läuten. Dabei drängt die Zeit bei diesem epochalen Thema. Es droht im Klein-Klein des politischen Alltags zu zerbröseln.

Durch das Pariser Klimaschutzabkommen vom Dezember 2015, das 190 Staaten einschließlich aller EU-Mitglieder unterzeichnet haben, hat sich die Weltgemeinschaft verpflichtet, die globale Erwärmung zu begrenzen. Ein Teil der europäischen Antwort ist der Green Deal, der den Weg zu einem nahezu treibhausgasneutralen Europa ebnen soll. Das erste Etappenziel naht praktisch schon morgen: Bis 2030 muss der Ausstoß um mehr als die Hälfte verringert worden sein. Das Ziel ist ambitioniert, aber machbar. EU-Kommissionschefin von der Leyen vergleicht es mit der Mondlandung von Apollo 11.

Das Missverhältnis zwischen dem, was zur Begrenzung des Klimawandels gemacht werden müsste, und dem, was tatsächlich gemacht oder auch nur derzeit geplant wird, ist deutlich. Und es ist den meisten Regierungen bewusst. Doch es macht sich zu einfach, wer denkt, es sei die Industrie, die hier auf die Bremse trete.

Industrie unverzichtbar für modernen Klimaschutz

Stattdessen muss man zwischen (veraltetem) Image und Realität unterscheiden. Natürlich ist richtig, dass die Industrie immer noch gut ein Viertel der Werte in Deutschland schöpft, mit den von ihr abhängenden Dienstleistungen sogar mehr als die Hälfte. Damit ist es auch klar, dass sich EU und Bundesregierung zu einer aktiven Industriepolitik bekennen, die die europäische Industrie international wettbewerbsfähig hält. Aber ein Kernelement dieser Politik ist inzwischen auch die Klimafreundlichkeit. Trotzdem akzeptieren viele Menschen und Öko-Gruppen die Industrie nur mit Vorbehalt.

Dabei ist die Industrie für modernen Klimaschutz unverzichtbar. Nehmen wir das Windrad, diesen Inbegriff ökologischer Energiegewinnung. Es ist ein High-Tech-Produkt aus komplexer industrieller Herstellung. Braucht Stahl, Aluminium, Kupfer, Gusseisen, Beton, Glasfaser, Epoxidharz, Speziallacke, Getriebeöle, Metalle der Seltenen Erden, Kabelsysteme – und Spitzenerzeugnisse des Maschinenbaus, die ebenfalls entwickelt und produziert werden müssen. Dieses Beispiel lässt sich übertragen auf Solarenergie, Kläranlagen, Filtertechnik, Recyclingsysteme und, und, und. Die schlichte Wahrheit ist: Ohne Industrie keine Umweltwirtschaft.

Tatsächlich sind wir aber schon einen Schritt weiter: Erneuerbare Energien werden unsere industrielle Zukunft neben anderen Energiefaktoren entscheidend mitprägen. Wenn die letzten Atommeiler und nach und nach Kohle- und Gas-Kraftwerke vom Netz genommen werden, werden Wind und Sonne bald die Hauptlast der gesamten Stromversorgung tragen müssen. Und wir müssen realistischer Weise auch von steigendem Strombedarf ausgehen, wenn man nur an die anstehende Elektrifizierung im Verkehr und im Gebäudebereich denkt.

Erneuerbare Energien werden mehr und mehr ein wesentlicher standortpolitischer Faktor. Schon heute verlieren Stahlhersteller Kunden an ausländische Konkurrenten, zum Beispiel in der Automobilindustrie, weil ihr Stahl nicht grün genug ist. Oder nehmen wir Aluminium. Starke Konkurrenten unserer Betriebe sitzen in Norwegen. Sie stellen Aluminium mit grünem Strom aus Wasserkraft her – ein Geschenk der Natur.

Eine mit den Klimazielen vereinbare Energieversorgung ist das Eine. Das Andere ist die Dekarbonisierung der industriellen Prozesse selbst. Das beliebteste Beispiel ist wiederum die Stahlindustrie. Diese könnte ihren Stahl künftig mit Wasserstoff statt mit Koks erzeugen. Dafür benötigt sie große Mengen an industriefähigem Wasserstoff. Technisch ist es ein altes Verfahren: Wasser wird durch Elektrolyse in Wasserstoff und Sauerstoff aufgespalten. Trefflich gestritten wird aber über die Herkunft des Stromes, denn diese ist entscheidend, ob der Wasserstoff überhaupt klimafreundlich ist oder nicht. Vor allem grüner Wasserstoff, direkt aus erneuerbaren Energien gewonnen, wird sehr nachgefragt sein. Mit anderen Worten: Wir benötigen noch mehr Erneuerbare Energien – und bis dahin wird man beim Aufbau der Wasserstoffinfrastruktur pragmatisch sein (und zumindest übergangsweise mehr als nur eine Farbe akzeptieren) müssen.

Die deutsche Industrie hat die Zeichen an der Wand gedeutet. Sie ist bereit. Sie weiß, dass es geht. Sie will, dass es geht. Ihre Verbände geben klare Signale. Der Countdown läuft, die Startfreigabe ist erteilt. Apollo 11 hebt ab.

Hindern statt fördern

Die Geschichte könnte hier zu Ende sein. Ist sie aber nicht. Aus Apollo 11 wird Apollo 13: „Houston, wir haben ein Problem!“ Nicht die Industrie behindert Frau von der Leyens „Moonshot“ – wir sind es.

Der dringend benötigte Ausbau der erneuerbaren Energien scheitert im bürokratischen Klein-Klein, wird zerrieben zwischen Planfeststellungen, Artenschutz und Bürgerinitiativen. Eine klare Linie, ein politisches Bekenntnis, den Ausbau voranbringen zu wollen, und darauf zielgerichtetes politisches Handeln fehlen. Auch industrielle Eigenversorgung mit Erneuerbaren Energien wird nicht gefördert, eher fühlen sich die Unternehmen immer wieder mit Knüppeln zwischen ihren Beinen konfrontiert. Dabei wäre es doch sinnvoll, beispielsweise jedes Hallendach mit PV-Modulen zu pflastern.

Der Druck auf Finanzunternehmen wächst, nachhaltig und klimafreundlich zu investieren. Nach zähem Ringen hat sich die EU auf eine Taxonomie geeinigt und festgelegt, was als „grünes Investment“ gelten darf. Ein mächtiger Hebel, der viel bewirken kann. Er kann aber auch viel kaputtmachen. Denn wenn alle plötzlich nur noch ganz grün sein wollen, wer finanziert und versichert die Unternehmen, die wir im Übergang noch brauchen und die die Versorgungssicherheit garantieren, bis der stockende Ausbau so weit ist?

Wie wir die Wasserstoffwirtschaft vorantreiben, wird eine Nagelprobe für die moderne Industriepolitik. Bisher kommt sie aber nicht so recht voran. Es gibt viele Projekte, die in Reallaboren erprobt werden. Nach ehrlicher Betrachtung muss man zugeben, dass eigentlich fast alles Relevante bekannt ist – einschließlich der Tatsache, dass die Technologien Stand heute noch teuer sind. Hier braucht es mutige Schritte, um vom Ausprobieren zum Machen zu kommen. Jetzt muss die Skalierung der Technologien gefördert werden. Und das betrifft natürlich nicht nur die Wasserstofferzeugung, sondern auch die Verfahrensumstellungen in der Industrie.

Mut zu „Carbon Contracts for Differences“

Die anstehenden riesigen Investitionen in die Umwandlung brauchen neue Wege. Einer könnte über „Contracts for Differences“ führen. Diese gelten in ihrem Ursprung zwar als hochspekulativ, allerdings geht es hier um „Carbon Contracts for Differences“. Dazu sagt das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: „Sie können helfen, energieintensive Unternehmen klimafreundlicher zu machen. Sie erhalten Betriebs- und Investitionskostenzuschüsse für den Einsatz CO2-armer Technik. Dabei werden zusätzliche CO2-Vermeidungskosten berücksichtigt“. Das Ministerium weiß genau, worum es geht: „Stahl und Chemie brauchen Planungssicherheit und klare politische Rahmenbedingungen. Hier können Carbon Contracts for Differences helfen.“

Dem ist nur wenig hinzuzufügen. Es fehlt nur noch die politische Entschlossenheit, die Mondlandung zu wagen.

 

Prof. Dr. Ines Zenke

 

Lesen Sie hier den Text über eine ökologische Industriepolitik von Svenja Schulze

Lesen Sie mehr zum Konzept der Mondlandungs-Ökonomie von Norbert Walter-Borjans und Matthias Machnig

Lesen Sie hier den Text von Prof. Dr. Gabriel Felbermayr zum CO2-Grenzausgleich