Nachhaltige Entwicklung: Leben in einer 2-Tonnen-CO2-Welt

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Philipp Krohn Journalist bei der FAZ
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Ein Essay über Nachhaltigkeit von Philipp Krohn

 

Das „Philosophie-Magazin“ hat im vergangenen Jahr eine Sonderausgabe zur „Klimakrise“ herausgebracht. In einem Interview fragte es den schwedischen Humanökologen Andreas Malm, ob wir den Kapitalismus abschaffen müssten, um den Klimawandel zu bremsen. Malm begreift sich selbst als Marxisten, der den Kapitalismus überwinden will. Er antwortete vielleicht nicht im Sinne der Fragestellung, aber nannte eine klare Priorität: „Das Dringlichste ist, dass wir Emissionen einschränken und fossile Brennstoffe aufgeben. Demgegenüber ist die Frage nach dem Kapitalismus an und für sich für mich fast ein bisschen sekundär…“

Es gibt eine Reihe solcher vermeintlichen Gegensätze, die uns davon abhalten, einen unverstellten Blick auf eine nachhaltigere Entwicklung freizulegen: Müssen wir verzichten oder sollten wir auf technische Sprünge hoffen? Gibt es ein nachhaltiges Wachstum oder liegt der Ausweg in einer Postwachstumsökonomie? Wird es der (gelenkte) Markt mit Instrumenten wie dem Emissionshandel richten oder brauchen wir harte ordnungspolitische Eingriffe, Verbote und Enteignungen?

Emissionen müssen runter

Im Grunde hat Andreas Malm darauf die passende Antwort gegeben: Das Dringlichste ist es, die Treibhausgasemissionen in Landwirtschaft, Verkehr, beim Heizen, im Konsum und bei der Energieerzeugung drastisch zu reduzieren. Die anderen ökologischen Herausforderungen des Industriezeitalters hat er dabei noch gar nicht angesprochen: den Erhalt der Artenvielfalt, den Schutz der Meere und der Wasserqualität, die Ausbreitung von Wüsten etwa.

Man will es kaum glauben, aber in einem der besten und frühesten wissenschaftlichen Artikel der Ökologischen Ökonomik hat der britische Volkswirt Kenneth E. Boulding diese Programmatik schon 1966 präzise ausformuliert. Bis dato habe der Mensch immer eine Grenze überschreiten können, sobald ihn ein Umweltproblem an der freien Entfaltung seiner Wünsche hinderte. „Das Bild der Grenze ist wahrscheinlich eines der ältesten der Menschheit, und es überrascht nicht, dass wir uns so schwer tun, es loszuwerden“, schrieb er in „The Economics of the Coming Spaceship Earth“.

Sein Anliegen ist es, vom Einsatz fossiler Brennstoffe zum Einsatz der Solarenergie zu kommen und so der Umwandlung von nutzbarer Energie und Materie zu umweltschädlichem Abfall zu entkommen. Die Vorstellung einer erfolgreichen Wirtschaft verharre allerdings weiterhin in dem, was er als Gegenmodell zur vernetzten und begrenzten Raumschiff-Wirtschaft skizziert: die Cowboy-Ökonomie, in der man wie oben beschrieben einfach weiter ziehen konnte, wenn Probleme auftauchten. „Die wichtigste Maßeinheit des Erfolgs einer Ökonomie ist nicht die Produktion und der Konsum, sondern Natur, Ausmaß, Qualität und Komplexität des gesamten Kapitalstocks, was den Zustand der Menschen in diesem System und ihren Geist einbezieht.“

Ökologische Ökonomik

Das „Spaceship Earth“ war in den sechziger Jahren eine gängige Metapher für eine Welt, die an ihre Grenzen stößt. Bei Boulding ist damit auch gemeint, dass Umweltprobleme des einen schnell zu Umweltproblemen seines Nachbarn werden können. Sein Text ist ein Gründungsdokument der Ökologischen Ökonomik, einer wissenschaftlichen Fachdisziplin, die vereinfacht gesagt die Natur nicht als ein Subsystem der Wirtschaft versteht wie die Umwelt- und Ressourcenökonomik, sondern die Wirtschaft als Teil des globalen Ökosystems. Bekannteste Vertreter sind Herman Daly, Robert Costanza, Joan Martinez Alier und die Heidelberger Schule um Malte Faber. Die Probleme des Raumschiffs Erde seien nicht nur zukünftig, sondern gegenwärtig, schrieb Boulding weiter. „Es gibt überzeugende Gründe, ihnen in der Gegenwart mehr Aufmerksamkeit zu schenken als wir es aktuell tun.“

Ziemlich genau ein halbes Jahrhundert später hat der amerikanische Wissenschaftsjournalist Peter Brannen, der unter anderem für „The Atlantic“, die „Washington Post“ und die „New York Times“ schreibt, ein bahnbrechendes Buch veröffentlicht. Für „The Ends of the World“ hat er vor 2017 die führenden US-amerikanischen Paläontologen besucht, um sich erklären zu lassen, wie es zu den fünf großen Massensterben auf der Erde kommen konnte. Ist der Glaube weit verbreitet, Meteoriteneinschläge hätten die Arten ausgelöscht, zeigten neuere Funde und Analysen, dass in jedem Fall der Stoffkreislauf von Sauerstoff und Kohlendioxid aus dem Gleichgewicht geraten war. In seinen Recherchen wird deutlich, dass das Leben biologischer Arten über Jahrmillionen nur in einem schmalen Temperaturband komfortabel war und außerhalb dessen die Erde ein sehr ungemütlicher Ort sein kann. „Das ungewöhnlich freundliche Klimafenster der vergangenen 10000 Jahre zählt zu den gleichmäßigsten und stabilen in den vergangenen Millionen Jahren“, schreibt Brannen. „Innerhalb dieses unüblichen Intervalls geschah die gesamte aufgezeichnete Menschheitsgeschichte.“

Seine Gesprächspartner erklären dem Autor, auf welche weitere Entwicklung die Übersäuerung der Meere und das Sterben der Korallen hindeuten könnten, sofern sich vergangene Zeiten wiederholten. Dies sei einer der Gründe, warum Wissenschaftler schockiert reagierten, als die Konzentration des Kohlendioxids auf der Erde vor acht Jahren erstmals 400 parts per million überschritt. Erderwärmung, Übersäuerung und verkleinerte Lebensräume schüfen einen „perfekten Sturm“, zitiert er David Jablonski von der Universität Chicago. „Wir erwärmen nicht nur, wir sind nicht nur Verschmutzung, wir sind nicht nur Raubbau – wir üben mit allem gleichzeitig Druck aus. Deshalb ist es so ungenau zu sagen, früher war es auch wärmer und deshalb zählt es jetzt nicht, weil das Teil des perfekten Sturms ist“, sagt der Wissenschaftler in Brannens Buch.

Politisch handeln. Aber wie?

Politisch haben sich die Staaten Ende 2015 auf das Pariser Abkommen geeinigt, das zum Ziel hat, die Erderwärmung auf 1,5 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen. Daraus ergibt sich Handlungsdruck, ohne dass die Ziele eine rechtliche Verbindlichkeit hätten. Die Protestbewegung „Fridays for Future“ hat vor Ausbruch der Corona-Pandemie viel öffentlichen Druck auf politische Verantwortungsträger ausgeübt, diese politische Verpflichtung einzuhalten. Das hat den vorherigen Fokus von individuellem Wohlverhalten wieder auf die politische Ebene verlagert. Leider ist dadurch ein weiteres der problematischen Begriffspaare entstanden: Müssen Individuen ihr Handeln verändern oder muss der Staat handeln?

So richtig die Forderung nach politischer Verantwortung ist, so wenig lassen sich diese beiden Ebenen trennen. Politisches Handeln muss es den Menschen erleichtern, ein nachhaltiges Leben zu führen, das im Einklang mit den Klimazielen steht. Ein CO2-Preis trifft die stärker, die noch nicht nachhaltig leben, als schon jetzt klimaneutral lebende Menschen. Das Intergovernmental Panel on Climate Change, die wichtigste Beratungsorganisation zum Klimawandel, hat das 1,5-Grad-Ziel auf einen individuellen ökologischen Footprint heruntergebrochen, der gerade eben noch zulässig wäre. Das führt zum Schlagwort der 2-Tonnen-CO2-Welt, die nach dieser Rechnung das Ziel sein sollte. Sicherlich stellen sich Fragen der intragenerationellen Gerechtigkeit, wenn dieses genauso für Menschen in den warmen Tropen wie in skandinavischen Ländern mit kalten Wintern gelten sollte, aber als Richtwert taugt diese 2-Tonnen-CO2-Welt sicherlich.

Die statistischen Daten variieren: Das Statistische Bundesamt gibt den CO2-Ausstoß in Deutschland für das Jahr 2019 mit 7,9 Tonnen pro Kopf an, das Umweltbundesamt rechnet anders und veröffentlicht die Zahl von 10,4 Tonnen CO2-Äquivalenten. Nach diesen Zahlen müssten die Emissionen auf ein Viertel oder ein Fünftel sinken. Was das für ein (auch sozialer) Kraftakt ist, haben die beiden Journalisten Petra Pinzler und Günther Wessel in ihrem als Buch veröffentlichten Selbstversuch „Vier fürs Klima“ eindrucksvoll beschrieben. Auf Online-Rechnern des Umweltbundesamts und des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie kann man seinen eigenen Footprint berechnen. Sehr große Hebel sind eingesparte Flugreisen, Wärmedämmung oder Solarthermie sowie Strom aus erneuerbaren Energien. Die im privaten Umfeld häufiger diskutierten Nachhaltigkeitsthemen wie biologische oder saisonale Ernährung sind vergleichsweise kleine Hebel. Veganismus ist vorteilhaft, aber ein zurückhaltender Fleischkonsum nicht viel schlechter. Die Nutzung von Plastiktüten hat so gut wie keinen Einfluss auf den CO2-Footprint.

Doch was ist nun mit den großen Fragen vom Anfang dieses Textes? Wachstum oder Postwachstum? Verzicht oder Technik? Markt oder Verbote? Mit den bislang beschriebenen Fakten im Hintergrund lassen sie sich relativ einfach beantworten. In der Vergangenheit ging Wirtschaftswachstum jahrhundertelang einher mit einem steigenden Umweltverbrauch, dessen aktuell dringlichste Folge der anthropogene Klimawandel ist. Doch statistisch zeigen sich hier seit einigen Jahren hoffnungsvoll stimmende Entwicklungen: Eine Entkopplung findet statt. Sie ist noch nicht so stark, wie sie sein müsste, damit die Wirtschaft nachhaltig wird, aber immerhin. Die Entkopplung ist zu einer Menschheitsaufgabe geworden. Begrenzen die Staaten verbindlich die Treibhausgasemissionen und bewegt sich daraufhin die Wirtschaft in einem nachhaltigen Rahmen und erzeugt Wachstum, ist die Frage, ob das sinnvoll ist, müßig. Wie sagte Andreas Malm: Erste Priorität haben die Emissionen – und wie man nach Lektüre des Peter-Brannen-Buchs ergänzen möchte, auch die Übersäuerung, Verschmutzung und Einschränkung von Lebensräumen.

Verzicht oder Technik? Natürlich sollten alle darauf hoffen, dass grüner Wasserstoff bald in industriellem Ausmaß nutzbar sein wird (wobei man gern häufiger etwas über möglicherweise schädliche Kuppelprodukte der Herstellung lesen würde). Das äußerst komfortable Leben in einem Passivhaus kann in einigen Jahrzehnten viele Tonnen Sondermüll zur Folge haben, gleichzeitig fühlt es sich aber nicht wie Verzicht an, nie Heizöl ordern zu müssen und sich trotzdem bei Temperaturen über 20 Grad im Winter zu Hause aufzuhalten. Wenn Eltern mit ihren Kindern auf ein Auto verzichten, was in der Großstadt sehr einfach, auf dem Land nicht unmöglich ist, empfinden diese als größte Belastung die Straßenverhältnisse mit Autos, denen heute oft achtzig Prozent des Raums eingeräumt werden. Die Antwort auf die Frage muss also heißen: Verzicht und Technik, allein wird es keines der beiden Konzepte hinbekommen.

Markt oder Staat?

Bleibt das Thema Markt oder Staat. Das ist eine Diskussion, die wenig mit dem Klima zu tun hat und mehr mit dem Glauben an das überzeugendere Ordnungsprinzip. Eine Raumschiff-Ökonomie im Sinne Bouldings kann marktwirtschaftlich, korporatistisch oder sozialistisch aufgebaut sein. Aber es spricht einiges dafür, dass ein Wohlstand, der nicht im Widerspruch zur Nachhaltigkeit steht, besser und günstiger mit Hilfe von Innovationen unkoordiniert handelnder Akteure über den Markt erzeugt werden kann. Der Emissionshandel, den die Europäische Union für Industrie- und Energieanlagen eingeführt hat, ist entgegen seinem Ruf in der Öffentlichkeit unglaublich erfolgreich. Zahllose Kohlekraftwerke gehen seinetwegen vom Netz – so etwa das umstrittene in Hamburg-Moorburg. Der Betreiber des Proteste auslösenden Kohlekraftwerks Datteln 4 überlegt schon heute, welcher Brennstoff in einigen Jahren mal Kohle ersetzen wird. Hätte man das von US-amerikanischen Volkswirten ausgedachte Instrument ernst genommen und am Anfang schärfer gestellt, hätte man sich viele Verhandlungen zum Kohleausstieg und – wie das Beispiel Großbritannien zeigt – auch Teile der Förderung nach dem Erneuerbaren-Energien-Gesetz sparen können.

Genauso sieht es an den Finanzmärkten aus. Je verbindlicher die staatlichen Regeln für den Klimaschutz werden, desto mehr ziehen Konzerne mit, weil sie wissen, dass sie andernfalls in einigen Jahren Stranded Assets (wertlose Kapitalanlagen) im Portfolio anhäufen. Eine Taxonomie für nachhaltige Finanzprodukte (auch wenn das Verfahren reichlich dirigistisch ist) wird Rechtssicherheit für Anleger und Unternehmen bringen. Hier zeigt sich, wie wertvoll Vorarbeiten auf der Ebene der Vereinten Nationen seit vier Jahrzehnten waren und wie unmittelbar wirksam die UN Sustainability Development Goals (SDG) werden. Über die Geldanlage und Altersvorsorge dürften in den kommenden Jahren viele Milliarden in nachhaltigere, nicht-fossile Industrien fließen. Ein einheitlicher und einfacher Standard für die Berichterstattung über Klimarisiken wäre dabei sehr nützlich.

Und wie dringlich und wie umfassend sind der erforderliche Wandel hin zu einer Ökonomie, die der Begrenztheit des Raumschiffs Erde gerecht wird? Einer der Pioniere der Ökologischen Ökonomik hat in einem Diskussionspapier des Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung gerade zum zehnten Jahrestag seiner Veröffentlichung den ersten Bericht des Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderung (WBGU) „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ kommentiert. Der Begriff „Große Transformation“ sei unangemessen, schreiben Malte Faber und seine Ko-Autoren Andreas Kuhlmann (Geschäftsführer der Deutschen Energieagentur), Reiner Manstetten und Marc Frick, da er nicht berücksichtige, dass es verschiedene Veränderungen gebe, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten einsetzen.

Sie schlagen stattdessen vor, von „sozial-ökologischen Transformationen“ zu sprechen. „Für den WBGU gibt es nur eine homogene Zeit, die gleichermaßen für die Natur und für alle Gesellschaften gilt“, schreiben sie. Das zugrundeliegende Bild einer eng getakteten gleichförmigen Zeit passe aber nicht, weil sie eine Einheitlichkeit dieser erforderlichen Entwicklung zugrunde lege. Zudem werde so suggeriert, dass etwas verpasst werde, wenn es nicht rechtzeitig erfolge. „Es ist nicht falsch, die Menschheit zu warnen und sie darauf hinzuweisen, dass es einmal zu spät sein könnte“, heißt es in dem Papier. Warnungen sollten bewirken, dass nicht eintritt, was man in Aussicht stellt. Doch wir könnten nicht wissen, was passieren werde, wenn es „zu spät“ ist, stellen die vier Autoren klar.

Die Auseinandersetzungen über Markt und Staat, über Wachstum oder Postwachstum, über Verzicht oder Technik, über fünf vor zwölf oder ausreichend Zeit, Kapitalismus und Sozialismus sind intellektuelle Übungen und beruhen auf alten Begriffspaaren, die auf dem Weg zur Nachhaltigkeit nicht immer zielführend sind. Eine Aufgabe der kommenden Jahre sollte es sein, das Schlagwort einer 2-Tonnen-CO2-Welt sinnvoll mit Leben zu füllen und dabei die Unterschiede zu berücksichtigen, die für unterschiedliche Generationen in unterschiedlichen Regionen der Welt gelten. Bewährten politischen Instrumenten sollte vertraut und die Zeit gegeben werden, die sie zur Entfaltung brauchen. Doch eines sollte man dabei nicht aus den Augen verlieren: Dass ein Leben in einer Welt mit Grenzen anders sein wird als die immer noch bestehende Cowboy-Ökonomie. Ein Ideenwettbewerb dazu, wie es gestaltet wird, könnte inspirierend sein.

 

Philipp Krohn

 

Gestern erschien hier ein Interview mit Axel Bojanowski, Wissenschafts- und Klimareporter der „Welt“. Link

 

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