Blog politische Ökonomie: Sie sind Mitglied im Nationalen Wasserstoffrat, haben mehrfach zu dem Thema Wasserstoff geschrieben – das letzte Mal einen Gastkommentar zu „Global Challenges“ im Handelsblatt – und Sie sagen, Wasserstoff müsse unbedingt „die“ Technologie im Schwerlastverkehr werden. Viele Leute kennen diesen Wasserstoff-Fachdiskurs nicht – von welchen Milliardensummen, von welchen Regulierungsanforderungen, von welchen politischen Transformationsentscheidungen reden wir denn, wenn wir in den nächsten Jahren Wasserstoff im Schwerlastverkehr zur bestimmenden Technologie machen wollen?
Veronika Grimm: Die Diskussion, ob wir Wasserstoff in einem Energiesystem der Zukunft brauchen gab es schon zu der Zeit, als man noch auf langfristig 80% Emissionsreduktion abgezielt hat. Damals war das strittig, weil es durchaus als eine Option gesehen wurde, Emissionen in schwer zu elektrifizierenden Bereichen einfach weiterhin hinzunehmen und gar keine Ansätze zu entwickeln. Durch das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 ist das vom Tisch. Nun ist klar, wir brauchen die direkte Elektrifizierung, aber dort, wo die direkte Nutzung von Strom nicht möglich oder schwer umsetzbar ist, brauchen wir eben auch die indirekte Nutzung von erneuerbarem Strom über klimaneutralen Wasserstoff und darauf basierende synthetische Energieträger. Wenn wir nun diese Energie-Welt der Moleküle ohnehin erschließen, sollten wir auch mitdenken, welche industriepolitischen Chancen in Deutschland damit einhergehen. Es darf nicht nur darum gehen, bestehende Strukturen umzustellen – also zum Beispiel fossilen Wasserstoff dort, wo er aktuell zum Einsatz kommt, durch grünen Wasserstoff zu substituieren. Es muss auch darum gehen, neue Wertschöpfungspotentiale zu identifizieren und zu erschließen. Im Schwerlastverkehr hat die Wasserstoffmobilität klare Vorteile gegenüber anderen Ansätzen der Emissionsreduktion. Insbesondere kann die Transformation sukzessive, über regional operierende Lieferverbünde stattfinden, die für größere LKW-Flotten zunächst nur wenige Wasserstofftankstellen brauchen. Das geschieht aktuell schon in der Schweiz, wo bereits die ersten rund 50 von (bis 2023) geplanten 1000 LKW unterwegs sind. So ergibt sich die Chance, die Emissionen im Schwerlastverkehr Stück für Stück unter umfangreicher Beteiligung privater Investoren zu reduzieren. Die LKW in der Schweiz kommen vom südkoreanischen Hersteller Hyundai. Die Produktion der Fahrzeuge und der Fahrzeugkomponenten birgt aber auch für die deutsche Fahrzeug- und Zulieferindustrie ein großes Wertschöpfungspotential, nicht zuletzt mit Blick auf zukünftige Exportmärkte. Um den Hochlauf der Produktion auszulösen, sind politische Entscheidungen notwendig, da sonst das Henne-Ei Problem der fehlenden Infrastruktur nicht gelöst wird. In der Schweiz sind auch beim Ausbau der Tankstelleninfrastruktur umfangreich private Investoren involviert und sie wird konsequent auch für Pkw zugänglich gemacht. Es ist wichtig, mit klugen Konzepten derartige Wertschöpfungspotentiale zu erschließen. Denn andere Industrien könnten im Zuge der Umstellung auf klimaneutrale Energieträger in Teilen auch abwandern.
Zum Beispiel?
Nehmen Sie zum Beispiel die Ammoniakproduktion in Deutschland. Aktuell wird der Wasserstoff vor Ort am Chemiewerk aus fossilem Erdgas hergestellt und dann weiter zu Ammoniak verarbeitet. Bei der Herstellung des grauen Wasserstoffs (aus fossilem Gas) entstehen Emissionen. Der fossile Wasserstoff sollte also durch klimaneutralen Wasserstoff substituiert werden. Aber wird man dann auf Dauer grünen Wasserstoff am Chemiewerk erzeugen? Eher nicht. Die Erzeugung grünen Wasserstoffs mittels Elektrolyse ist sehr stromintensiv, daher betreibt man Elektrolyseanlagen idealerweise dort, wo erneuerbarer Strom extrem günstig ist, also beispielsweise dort, wo Windanlagen viele Volllaststunden haben. Das ist typischerweise nicht in der Nähe des Chemiewerks der Fall. Bevor man nun aber den grünen Wasserstoff zum Chemiewerk transportiert, ist es auch denkbar, dass die Ammoniakproduktion sich mittelfristig an Orte verlagern wird, an denen die Erzeugung von grünem Wasserstoff besonders günstig ist – Ammoniak ist nämlich einfacher zu transportieren als reiner Wasserstoff. Nun kommt hinzu, dass wir in Deutschland mittelfristig ohnehin Wasserstoff oder seine Folgeprodukte in großen Mengen importieren werden. Schon heute werden Partnerschaften initiiert, um grünen Wasserstoff in Afrika, Chile oder Australien zu erzeugen, der dann nach Deutschland transportiert wird. Auch hier gilt wieder: der reine Wasserstoff ist aufwendiger zu transportieren als Ammoniak oder andere Wasserstoff-basierte flüssige Energieträger. Also ist es nicht unwahrscheinlich, dass Wertschöpfungsketten teilweise abwandern werden. Das ist in einer Transformation ein ganz normaler Vorgang und man muss immer überlegen, ob es übergeordnete Gründe gibt, Bestandswahrung zu betreiben – oder eben nicht.
Die Überlegungen verdeutlichen aber noch einmal, dass wir eben dringend darüber nachdenken müssen: wo eröffnen sich neue Wertschöpfungspotentiale und gibt es politischen Handlungsbedarf, um diese Wertschöpfung auch zu realisieren? Da ist der Schwerlastverkehr durchaus etwas, worüber man nachdenken sollte. Die deutsche Industrie ist in den relevanten Technologiefeldern sehr gut aufgestellt und es werden sich attraktive Exportmärkte auftun, wenn weltweit an vielen Orten Wasserstoff im Schwerlastverkehr eine Rolle spielen wird. Ähnliches gilt für andere Schlüsselkomponenten einer Wasserstoffwirtschaft: Elektrolyseure, Logistiksysteme, Brennstoffzellen. Deutsche Unternehmen sind hier exzellent aufgestellt, aber der Wettbewerbsdruck zum Beispiel aus Asien ist heute schon hoch. In Südkorea werden eben schon heute Brennstoffzellen-LKW in Serie produziert. Die First Mover werden Vorteile haben, zum Beispiel, weil sie relevante Standards setzen und einen technologischen Vorsprung haben.
Es gibt LKWs mit einer geringen Tonnenzahl, und andere LKWs, die wirklich Schwerlast sind. Aktuell gibt es eine Debatte, ob schwere Nutzfahrzeuge in der Zukunft je nach Gewichtsklasse rein batterieelektrisch unterwegs sein könnten. Nachdem die Batteriefans das Auto sozusagen für sich reklamiert haben, erklären sie nun auch im Bereich LKW ihre Wettbewerbsfähigkeit. Daher die Frage, wie eng definieren Sie den Schwerlastverkehr?
Ich halte wenig von den Diskussionen darüber, in welchem Segment sich genau die eine oder die andere Technologie durchsetzt. Die Anwender werden vermutlich in Zukunft beide Optionen haben und die Märkte werden am Ende des Tages entscheiden. Aufgrund der unterschiedlichen Marktreife kann man anhand der aktuellen Zulassungszahlen auch keinen validen Vergleich anstellen, der Aufschluss über die zukünftigen Marktanteile in 10 oder 20 Jahren gibt. Die Markteinführung von batterieelektrischen Fahrzeugen ist schon weiter, wir erleben glücklicherweise gerade einen starken Hochlauf bei den Neuzulassungen. Bei den Brennstoffzellen-Fahrzeugen stehen wir noch am Anfang, es gibt aber auch hier alles, vom PKW bis zum schweren LKW. Welche Segmente sie zu einem späteren Zeitpunkt besetzen, das wird sich zeigen.
Um die globalen Klimaziele erreichen zu können und gleichzeitig industriepolitische Chancen zu nutzen, sollten wir zügig ein Segment eröffnen, in dem Wasserstoff Bedeutung erlangen wird. Dieses Jahrzehnt ist entscheidend für die Erreichung der Klimaziele und wir sollten alles in die Waagschale werfen. Wir brauchen sowohl Wasserstoff-Tankstelleninfrastrukturen als auch Ladeinfrastruktur für Batteriefahrzeuge. Man sollte versuchen, die Wasserstoff-Tankstelleninfrastruktur für möglichst viele Fahrzeugklassen zugänglich zu machen, so wie es in dem Schweizer Modell praktiziert wird. Dort entstehen mit dem Hochlauf der LKW-Flotte gleichzeitig auch Betankungsmöglichkeiten für Pkw. Gibt es sowohl für batterieelektrische als auch für Wasserstoff-Fahrzeuge eine Infrastruktur, so können Anbieter und Kunden zukünftig an Märkten entscheiden, welches Fahrzeug sich für welche Anwendung eignet. Dabei werden die Präferenzen der Kunden eine Rolle spielen, so wie es heute auch ist. Denn auch heute findet die Wahl zwischen Benziner und Diesel oder bezüglich der Gewichtsklasse des Autos nicht ausschließlich unter Kostengesichtspunkten statt. Der Staat sollte möglichst gute Rahmenbedingungen für den Wettbewerb schaffen. Meine Vermutung wäre – ohne, dass ich das bestimmen möchte oder glaube, dass der Staat das bestimmen sollte –, dass es Bereiche geben wird, wo sich die Mehrheit für Wasserstofffahrzeuge entscheiden wird und andere, in denen Batteriefahrzeuge dominieren werden. Das kann an unterschiedlichen Anforderungsprofilen liegen, oder an Präferenzen. Auch heute überzeugt die Automobilindustrie ihre Kunden, für sehr hochwertige Fahrzeuge viel Geld auszugeben, weil sie bestimmte Features haben, eine bestimmte Marke oder ein bestimmtes Image – die Leute zahlen dafür. Wir leben in einer Marktwirtschaft und sollten ihr Potential nutzen, um möglichst viele Anwender schnell von einem Umstieg auf die klimafreundliche Mobilität zu überzeugen.
Und es stimmt, es gibt immer wieder Stimmen, die den „Sieg der Batterie über die Brennstoffzelle“ erklären. Man muss aber auch hinschauen, woher das kommt – eben meist von denjenigen, deren Geschäftsmodell im batterieelektrischen Bereich liegt. Es ist völlig in Ordnung, wenn ein Unternehmen da einen Fokus setzt – für Deutschland als Volkswirtschaft ist es aber wichtig, in allen Bereichen der klimafreundlichen Mobilität Wertschöpfungspotentiale und Mobilitätsoptionen aufzubauen, denn es geht um zukünftige Arbeitsplätze und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie auf dem Mobilitätsmarkt in seiner ganzen Breite. Können wir das ganze Spektrum ausnutzen, so beschleunigt das auch die Transformation und der Klimaschutz nimmt mehr Fahrt auf.
Sie haben darauf hingewiesen, dass wir in Deutschland oft auf die reine Lehre fokussiert sind und haben mit einem gewissen Unterton gesagt, eigentlich müssten wir uns ein bisschen pragmatischer geben. Sie sind ja auch Verhaltensökonomin und wenn Sie ganz bewusst die Verhaltensökonomin-Brille aufsetzen, und dann die Diskurse im Bereich Energiepolitik in Deutschland anschauen, wie würden Sie es bewerten, dass wir oft schon vorgefertigte Richtungen laufen, ohne zu wissen ob diese Richtungen auch stimmen. Also warum haben wir diesen Diskurs und warum gibt es da oftmals vorher schon so Pfadabhängigkeiten, die wir selber setzen?
Diskurse können blockieren, aber sie können auch antreiben. Ein stückweit erleben wir gerade einen Paradigmenwechsel in der Energie- und Klimapolitik durch die Fridays for Future. Da ist Druck entstanden und der Politik ist klar geworden, dass deutlich mehr geschehen muss. Das ist erstmal gut so.
Bei der Umsetzung und beim Tempo tun wir uns aber schwer. Es gibt da viele Diskurse, die blockieren oder von Wesentlichem ablenken. So zum Beispiel die oft erbitterte Debatte, ob wir mehr Elektronen oder mehr Moleküle brauchen – oft sogar nur mit einem Fokus auf Deutschland selbst. Oder das Bestreben, keine Übergangslösungen wie etwa blauen Wasserstoff (aus fossilem Gas, wobei das entstehende CO2 aufgefangen und eingelagert wird) in der Phase der Transformation zuzulassen. Dieser fehlende Pragmatismus macht uns fürchterlich langsam. Mit einem solchen Fokus auf die reine Lehre (nur erneuerbar erzeugte Elektronen einzusetzen) sind wir auch nicht gut anschlussfähig an die europäischen Partner oder an globale Entwicklungen. Um die Klimaziele global zu erreichen braucht es globale Allianzen, wir müssen mit unseren Partnern Wege in die Klimaneutralität gestalten und dabei auch deren Transformationspfade anerkennen. Der Konsens könnte sein, dass man 2050 Übergangslösungen hinter sich gelassen hat.
Mit dem Bekenntnis der Politik zur Klimaneutralität und den umfangreichen Herausforderungen dieser Transformation hat sich übrigens auch die Rolle der Wirtschaft verändert. In einer Welt, in der die großen Industrienationen Mitte des Jahrhunderts klimaneutral sein wollen, müssen zukunftsfähige Geschäftsmodelle der Unternehmen auf dieses Ziel einzahlen. Je mehr sie das tun, desto erfolgreicher das Unternehmen – die Ziele der Wirtschaft und Klimaschützer sind daher zunehmend gleichgerichtet. Und: wir brauchen den technologischen Fortschritt, um weltweit die Klimaziele zu erreichen. Klar ist also, den Weg in die Klimaneutralität müssen wir mit der Wirtschaft zusammen gestalten, nicht gegen sie. Dafür muss es einen Schulterschluss zwischen gesellschaftlichen Strömungen geben, die in der Vergangenheit ganz fundamental auf unterschiedlichen Seiten der Debatte standen – zum Beispiel die Gasindustrie und die Klimaschützer. Plötzlich hat man gemeinsame Interessen – aber der Schulterschluss fällt natürlich schwer, weil man sich historisch bedingt durchaus misstraut. Die Kunst besteht nun darin, diesen Schulterschluss hinzubekommen, und klimapolitische, industriepolitische und geopolitische Interessen zusammen zu denken, um am Ende global die Klimaziele zu erreichen.
Kann man nicht mit verhaltensökonomischen Anreizen arbeiten – also eine Art „Öko-Nudging“ betreiben, also dass man es schafft, sich nicht so sehr auf Maximalpositionen zu fokussieren?
Ich weiß nicht, ob man das als „verhaltensökonomisch“ bezeichnen kann. Wir brauchen transparente Diskurse über mögliche Wege zur Klimaneutralität und die Rolle der verschiedenen Stakeholder. Ich glaube, was passieren sollte, ist eine Art Vertrauensbildung, und zwar indem man auf den verschiedenen Seiten Zugeständnisse macht, die es ermöglichen, das Tempo der Transformation zu erhöhen und so das gemeinsame Ziel der Klimaneutralität zu erreichen.
Auf Seiten der Wirtschaft könnte das darin zum Ausdruck kommen, dass ein Umbau der energiepolitischen Rahmenbedingungen mitgetragen wird, der klimaneutrale Geschäftsmodelle attraktiv macht. Insbesondere existieren zahlreiche direkte und indirekte Subventionen fossiler Energieträger, die den Unternehmen zwar auf die ein oder andere Art nützen aber vollkommen unnötig oder gar schädlich für den Klimaschutz sind. Wir kommen als Gesellschaft nicht voran, wenn wir mit viel Geld dagegen anfördern müssen. Wir hatten im Sachverständigenrat vorgeschlagen, diese Art von indirekten Subventionen und Vergünstigungen zur Disposition zu stellen, um (zusammen mit den Einnahmen aus der CO2-Bepreisung) die Refinanzierung einer konsequenten Umstellung der Abgaben und Umlagen in der Energieversorgung zu ermöglichen. Man könnte so die EEG-Umlage abschaffen und auch die Stromsteuer. Das würde die Anreize zur Sektorenkopplung massiv verstärken – also zur Nutzung von zunehmend erneuerbarem Strom für die Dekarbonisierung der Sektoren Wärme, Mobilität und der Industrie. Würden wir auf diese Weise die Anreize stärken, so würde seitens der Unternehmen auch weniger Aufwand betrieben werden müssen, Fördergelder zu attrahieren. Es ginge dann darum, im Wettbewerb um die besten Ideen erfolgreich zu sein.
Und bei den Ökos?
Es ist wichtig, sich mit Transformationspfaden zu befassen und ihren Auswirkungen auf industriepolitische und geopolitische Entwicklungen.
Ich bin fest überzeugt, dass wir 2050 bei grünem Wasserstoff sein sollten, aber es gibt eine Reihe von Gründen, die Transformation über blauen, türkisen oder vielleicht auch roten Wasserstoff zu realisieren. Erstens sind wir dann schneller und können in Zukunftsmärkten vorne dabei sein. Wenn zum Beispiel schneller mehr Wasserstoff verfügbar ist, dann wird die deutsche Industrie auch schneller Anwendungen und Produkte entwickeln und auf den Markt bringen. Dadurch entstehen Wertschöpfung und Arbeitsplätze. Zweitens senkt der Weg über blauen Wasserstoff die Kosten der Transformation und somit die Hürden für die Unternehmen sowie den Förderbedarf für den Staat. Grüner Wasserstoff wird nämlich zunächst noch knapp und sehr teuer sein. Drittens können wir unseren aktuellen Handelspartnern, von denen wir fossile Gase beziehen, eine Kooperation auf diesem Transformationspfad anbieten und auch die bestehenden Energiepartnerschaften in die neue, klimaneutrale Welt führen. Das ist aus geopolitischen Gründen wichtig und auch im Sinne des globalen Klimaschutzes. Wenn wir bestehende Handelsbeziehungen einfach kappen, dann verkaufen die Länder mit Zugang zu fossilen Energieträgern diese eben anderen. Das hilft niemandem. Schwellenländer würden dann zukünftiges Wachstum auf der Basis fossiler Energieträger realisieren – hochproblematisch für den Klimaschutz. Solche Aspekte gilt es zu diskutieren, um durch einen deutschen Sonderweg nicht in eine Sackgasse zu geraten oder zumindest viel Zeit zu verlieren.
Es spricht meines Erachtens viel für eine strategische Entscheidung, blauen Wasserstoff in der Transformation als Übergangstechnologie zu nutzen. Dabei muss die Produktion grünen Wasserstoffs von vorn herein forciert werden, damit der Wechsel zu grün durch die Kostendegression irgendwann aus rein wirtschaftlichen Gründen stattfindet. Idealerweise ermöglicht technologischer Fortschritt mittelfristig in vielen Ländern dann nachhaltiges Wachstum auf der Basis erneuerbarer Energien. Aber zugegeben, es braucht ein gewisses Vertrauen bei denjenigen, die aktuell im Klimaschutz engagiert sind, dass sie nicht ausgespielt werden und am Ende „nur den Interessen der Großkonzerne dienen“, sondern dass da belastbare Transformationspfade geboten werden, die zu dem gemeinsamen Ziel führen. Hier sehe ich auch noch Forschungsbedarf, die möglichen Transformationspfade und die damit einhergehenden Industriepolitischen und geopolitischen Chancen und Risiken darzustellen.
Sie haben die unglaublichen Finanzierungsnotwendigkeiten angesprochen, die die Transformation bedeutet. Im Grunde gibt es zwei Wege, es läuft über Privatfinanzierung oder – zumindest in großer Ergänzung – über staatliche Finanzierung und Industriepolitik. Es wird immer wieder darüber gesprochen, wie finanzieren wir das jetzt eigentlich? Würden Sie sagen, wir müssen jetzt an die Schuldenbremse ran und unsere Finanzpolitik in den nächsten Jahren grundsätzlich neu ausrichten, einen anderen Investitionspfad einschlagen, oder müssen wir eher Regulierungen und Rahmenbedingungen ändern, damit die Privatwirtschaft mehr Mittel bereitstellen kann? Wie finanzieren wir die Transformation?
Wir müssen klar an die Rahmenbedingungen heran, da vieles noch aus einer Zeit stammt, als der Strom noch komplett fossil erzeugt wurde. Die Anreize an den Märkten passen mit dem Ziel der Klimaneutralität schlicht nicht zusammen. CO2-Preise müssen steigen, das Ziel muss ein sektorenübergreifender Emissionshandel auf europäischer Ebene als Leitinstrument der Klimapolitik sein. Im Gegenzug brauchen wir eine Energiepreisreform, insbesondere muss der Strompreis von der EEG-Umlage und der Stromsteuer entlastet werden. Um das zu refinanzieren kann man Einnahmen der CO2-Bepreisung verwenden, weitere Mittel könnten durch die Abschaffung von direkten und indirekten Subventionen fossiler Energieträger frei werden. Ein niedriger Strompreis ist wichtig, damit die Anreize in die richtige Richtung gehen. Denn die Dekarbonisierung der Sektoren Mobilität und Wärme sowie der Industrie geschieht perspektivisch über den zunehmend regenerativ erzeugten Strom. Je günstiger der Strompreis, desto attraktiver sind derartige Geschäftsmodelle, desto mehr wird in klimaneutrale Geschäftsmodelle investiert. Außerdem erhöht die Entlastung beim Strompreis die Akzeptanz der der CO2-Bepreisung bei der Bevölkerung.
Worin läge dann außerdem die Rolle des Staates?
Der Staat ist zusätzlich gefragt, wenn es um Infrastrukturausbau, um Forschungsförderung sowie um Bildung und Fachkräfte der Zukunft geht. Es ist sehr positiv, dass im Konjunkturprogramm sehr viele dieser zukunftsgerichteten Investitionen vorgesehen sind.
Beim Infrastrukturausbau muss der Staat nicht alles finanzieren, aber über Zuschüsse und verbindliche Zeitachsen für den Hochlauf einen Rahmen schaffen. Bei Bau von Wasserstofftankstellen in Deutschland oder auch der Schweiz zeigt sich: Unternehmen sind mit moderater staatlicher Förderung bereit, in den Bau von Tankstellen zu investieren und auch aktuelle Betriebskostendefizite zu tragen, in Erwartung zukünftiger attraktiver Märkte. Ein klarer Plan für den Hochlauf von Infrastruktur ist wichtig, denn Investitionen, zum Beispiel in die Entwicklung und Produktion von klimafreundlichen Fahrzeugen, werden nur dann getätigt, wenn auch absehbar ist, dass die Tankstellen- und Ladeinfrastruktur verfügbar sein wird.
Bei der Forschungsförderung ist einerseits die Forschung an den Hochschulen und Forschungseinrichtungen wichtig, insbesondere da dort die Fachkräfte der Zukunft im Bereich der neuen Technologien ausgebildet werden. Hier müssen vorausschauend Kapazitäten aufgebaut werden, da es Zeit braucht, Studiengänge mit neuen Ausrichtungen zu etablieren und Studierende auszubilden. Aber auch der Transfer von der Forschung zum marktfähigen Produkt muss klappen und das Engagement der kleinen und mittleren Unternehmen gestärkt werden. Sie investieren in Deutschland weit weniger in Forschung als große Unternehmen. Die steuerliche Forschungsförderung kann da helfen, oder Cluster und Verbundprojekte, in die insbesondere auch klein- und mittelständische Unternehmen eingebunden sind. Es ist wichtig, sie in der Transformation mitzunehmen, denn auch ihre Geschäftsmodelle werden sich fundamental ändern müssen. Denken Sie an die Zulieferindustrie, die dann nicht mehr Hersteller von Fahrzeugen mit Verbrennermotoren beliefert, sondern Hersteller von Batterie- und Brennstoffzellenfahrzeugen, die mit zunehmender Digitalisierung vielleicht zudem ein „Device on Wheels“ mit zahlreichen Schnittstellen sind.
Und müssen wir dafür an die Schuldenbremse ran?
Ich denke nicht. Wir sollten zum jetzigen Zeitpunkt von einer Grundgesetzänderung absehen. Ich halte das aktuell sogar für kontraproduktiv. Ganz generell wissen wir noch nicht, wie sich die Wirtschaft in den kommenden Monaten entwickelt. Wir haben aktuell die Möglichkeit, weiterhin auf die Ausnahmeregel der Schuldenbremse zurückzugreifen, auch 2022 wird das noch möglich sein. Das ist auch aktuell der richtige Weg – eine sachorientierte Diskussion über die Notwendigkeit einer Reform ist unter den aktuellen Umständen schwierig.
Um die Transformation zur Klimaneutralität anzuschieben sehe ich keinen Handlungsbedarf bei der Schuldenbremse, dafür aber in vielen anderen Handlungsfeldern, die unsere Aufmerksamkeit brauchen. Zum einen sind die Investitionen des Bundes seit 2014 gestiegen und wir haben zuletzt im Zukunftspaket im Rahmen des Konjunkturprogramms hohe Summen aufgerufen, die gilt es nun zielgerichtet zu nutzen. Es liegt also schon viel Geld im Schaufenster. Zum zweiten sollten wir nicht den Glauben befördern, dass die Transformation mit ein bisschen mehr staatlichen Mitteln schon zu schaffen ist. Das wäre ein gefährlicher Trugschluss. Wir brauchen privatwirtschaftliche Investitionen von immensem Umfang und all das Engagement und die Innovationskraft in der Wirtschaft. Letztlich kann die Illusion, der Staat finanziere die Transformation den Druck reduzieren, die Rahmenbedingungen anzupassen. Das wäre fatal.
Die Diskussion um die Schuldenbremse müssen wir auch im europäischen Kontext sehen, gerade mit Blick auf die gemeinsame Erholung nach Corona. Aufgrund der gemeinsamen Geldpolitik kann kein Staat alleine durch nationale Geldpolitik seine Schulden bedienen. Die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen in den Mitgliedsstaaten ist daher von großer Bedeutung. Es würde vermutlich in eine Sackgasse führen, wenn Deutschland auf mehr Staatsausgaben bei höheren Defiziten setzen würde, von anderen Mitgliedsländern aber Haushaltsdisziplin und Reformen erwarten würde. Die europäische Union hat wiederholt strukturelle Reformen in verschiedenen Mitgliedsstaaten angemahnt. Zuletzt wurde Deutschland im Zusammenhang mit der Verwendung der Mittel aus der europäischen Aufbau- und Resilienzfaszilität von der EU-Kommission aufgefordert, strukturelle Reformen umzusetzen – etwa mit Blick auf das Steuer- oder Rentensystem. Wir sollten mit gutem Beispiel vorangehen und wichtige Reformen vorantreiben, zum Beispiel zur Erhöhung der Arbeitsmarktpartizipation, zur Verbesserung der Tragfähigkeit des Rentensystems und zur Verbesserung der Bildungsergebnisse insbesondere benachteiligter Gruppen. Mit Blick auf den bevorstehenden Strukturwandel ist letzteres von großer Bedeutung, denn exzellent ausgebildete Fachkräfte sind einer der wichtigsten Faktoren für den Erfolg. Dies könnte andere Mitgliedstaaten darin bestärken, ebenfalls notwendige Reformen in Angriff zu nehmen. Davon würde nicht nur die EU, sondern vor allem Deutschland selbst profitieren. Wir müssen als europäische Union gemeinsam daran arbeiten, unsere Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und den Menschen dadurch Chancen zu eröffnen, insbesondere auch für ein höheres Lohnwachstum. Die Idee, dies über eine höhere Verschuldung zu erreichen oder sogar über eine gemeinsame Verschuldung, trägt meines Erachtens nicht weit. Schon die Einigung über diesen Weg wäre schwer vorstellbar, populistische Kräfte könnten davon profitieren und eine Stärkung der Europäischen Union im Globalen Gefüge ist dadurch nicht zu erwarten. Auch der europäische Kontext spricht daher dafür, das Fass mit der Schuldenbremse zum aktuellen Zeitpunkt nicht aufzumachen.
Ich würde gerne an dieser Stelle nachbohren. Zum Beispiel der Vorstandschef der Deutschen Bank, Christian Sewing, hat neulich überraschenderweise auch staatliche Industriepolitik gefordert. Durch die Blume hat er gesagt, mein Institut wird diese unglaublichen Transformationsanforderungen nicht ausschließlich finanzieren können. Mit anderen Worten, der Bankensektor kann diese grüne Transformation nicht stemmen. Eigentlich müssten wir andere Player haben. Nun stellt sich die Frage: Kann es nicht die Möglichkeit geben, staatliche Industriepolitik – jenseits von Modellprojekten – als hochskalierte industriepolitische Projekte über die nächsten Jahre mit einem festen Beitrag zu fördern? Könnten Sie sich sowas vorstellen?
Ich finde das Konzept der missionsorientierten Industriepolitik insofern sehr attraktiv, als dass man klar verständliche Ziele identifiziert, die die Menschen ansprechen und die wir als Gesellschaft gemeinsam anstreben. Das erhöht auch das Verständnis für den Handlungsbedarf in vielen verschiedenen Lebensbereichen. Ein Beispiel aus Schweden: dort hat man das Ziel, dass jede Bürgerin und jeder Bürger täglich ein gesundes und nachhaltiges Mittagessen bekommt – in Schweden isst ein Großteil der Bevölkerung mittags in Kantinen. Das so einfach klingende Ziel berührt unzählige Handlungsfelder und erlaubt es, Politikmaßnahmen danach zu bewerten, ob Sie zu diesem Ziel beitragen. So kann vieles in Bewegung kommen und Akzeptanz erfahren.
Dabei geht es immer um eine Mischung aus öffentlichen und privaten Investitionen. In den vergangenen Jahren wurde viel darüber diskutiert, ob der Staat zu wenig investiert. Gezeigt hat sich vor allem: Der Realisierung von Investitionsvorhaben stehen Hemmnisse im Wege, die dringend abgebaut werden müssen – denn viele Mittel fließen nicht ab. Ein Hemmnis liegt in den begrenzten Personalkapazitäten in der kommunalen Verwaltung, insbesondere in der Bauverwaltung. Außerdem stehen oft aufwendige Planungs- und Genehmigungsverfahren einer schnellen Umsetzung entgegen. Letztendlich behindert die schlechte finanzielle Ausstattung einiger Kommunen öffentliche Investitionsvorhaben insofern, als dass die Eigenleistungen für geförderte Investitionsprojekte durch diese Kommunen nicht zu stemmen sind. Die Länder sollten daher die Kommunen mit geringer Finanzkraft bei der Bewältigung von Herausforderungen – zum Beispiel durch den Strukturwandel oder den demografischen Wandel – vorausschauend unterstützen. Planungs- und Verwaltungshemmnisse könnten mittelfristig durch die Einrichtung rechtlich eigenständiger Investitionsfördergesellschaften überwunden oder zumindest abgemildert werden. Das könnte beispielsweise dazu führen, dass die Kapazitäten in der Verwaltung, aber auch die Kapazitäten in der Bauwirtschaft an die Bedarfe angepasst werden.
In welchem Umfang für den anstehenden Strukturwandel öffentliche Investitionsmittel benötigt werden, hängt wesentlich davon ab, wie zielgerichtet diese eingesetzt werden und in welchem Umfang es gelingt, komplementär private Investitionen zu mobilisieren. Damit durch die öffentlichen Mittel eine Hebelwirkung mit Blick auf private Investitionen entsteht, müssen für Unternehmen längerfristige Wachstumsperspektiven entstehen und somit positive Ertragserwartungen entstehen. Vieles spricht dafür, private Investitionen zu mobilisieren – das Tempo der Umsetzung, die Expertise der Unternehmen, das oft fehlende Wissen des Staates um die beste Lösung für eine Herausforderung und nicht zuletzt der Aufwand, der bei einer starken Rolle des Staates von den vielen Stakeholdern betrieben werden muss, damit die eigene Agenda Gehör findet.
Privates Kapital wird mobilisiert, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Hier gibt es in der Tat mit Blick auf Investitionen in die grüne Transformation noch einiges an Handlungsbedarf. Über die Notwendigkeit einer Energiepreisreform haben wir schon gesprochen. Doch selbst wenn klimaneutrale Geschäftsmodelle zukünftig Renditen versprechen, müssen Investoren sie auch als solche erkennen können. Das impliziert Anforderungen an die Transparenz hinsichtlich der Nachhaltigkeit von Anlagemöglichkeiten in vielfacher Hinsicht. Die EU-Taxonomie zielt zum Beispiel darauf ab, diese Transparenz herzustellen. Aber auch Anforderungen von Zentralbanken, Wertpapierkäufe an ein gewisses Maß an Transparenz hinsichtlich Umwelt-, sozialen und Unternehmensführungsaspekten zu koppeln, können dazu beitragen. Dies verändert selbst dann etwas, wenn die Zentralbanken nachhaltigen Anlagen keinen Vorzug geben, sondern nur die Offenlegung einfordern – da so die Informationen auch für andere Investoren verfügbar werden.
Danke Ihnen für das Interview
Zur Person: Veronika Grimm ist seit 2008 Inhaberin des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insb. Wirtschaftstheorie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2020 ist Veronika Grimm Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Darüber hinaus ist sie in zahlreichen Gremien und Beiräten aktiv, unter anderem im Nationalen Wasserstoffrat der Bundesregierung. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Energiemärkte und Energiemarktmodellierung, Verhaltensökonomie, soziale Netzwerke sowie Auktionen und Marktdesign.
Das Interview führten Dr. Nils Heisterhagen und Philipp Mischon
Prof. Dr. Veronika Grimm