In Sachen Klimaschutz befindet sich die energieintensive Industrie in Deutschland in einer Zwickmühle: Der Bau einer neuen Anlage nach dem alten klimaschädlichen Muster wäre eine Investitionsruine, für den Bau einer modernen, zukunftsfähigen Anlage fehlt ihnen bislang jedoch das Geschäftsmodell. Aus dieser Zwickmühle führt nur aktive Klimapolitik.
CO₂-freie Produkte wie grüner Stahl, CO₂-frei produzierter Dünger oder Kunststoff sind international noch nicht wettbewerbsfähig. Der Preis für klimaschädliche CO₂-Emissionen ist zu niedrig und klimaneutrale Schlüsseltechnologien sind noch nicht wirtschaftlich. Gleichzeitig hat sich Deutschland zum Ziel gesetzt bis 2050 klimaneutral zu werden. Und nicht nur Deutschland, inzwischen haben sich mehr als 70 Länder dem Ziel der Klimaneutralität verschrieben. Darunter die USA, Großbritannien, China, Japan und natürlich die EU. Das Rennen in Richtung null Emissionen hat begonnen. Es ist the new race to the bottom: Diesmal geht es nicht um die Absenkung von Umwelt- oder Sozialstandards, sondern wer als erster die Null-Emissions-Technologien beherrscht, breitflächig einsetzt und damit auch globaler Marktführer auf dem wachsenden Markt der klimaneutralen Technologien wird.
Investitionsentscheidungen stehen an
Das wirkt sich auf Investitionsentscheidungen aus. Auch – oder, aufgrund der Langlebigkeit ihrer Anlagen, besonders – in Stahl-, Chemie- und Zementfabriken. Was den Unternehmen hierzulande fehlt ist ein politischer Rahmen, der ihnen Planungssicherheit für klimafreundliche Investitionen gibt. Denn der Wille ist da: Wo die Unternehmensführungen bis vor wenigen Jahren ihren Umbau im Sinne des Klimaschutzes noch stoisch vor sich hergeschoben haben, stehen jetzt Treiber, die sich klar zur klimaneutralen Transformation bekennen. Schließlich geht es um Investitionen in Produktionsstraßen und Anlagen, die die CO₂-Bilanz des Unternehmens für die nächsten Jahrzehnte festschreiben. Gutes, weitsichtiges Unternehmertum blendet Klimaschutz nicht mehr aus.
Klimaneutralität bis 2050 bedeutet: Wir ersetzen in allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen Kohle, Öl und Gas durch Strom und Wasserstoff aus Erneuerbaren Energien. Damit wird Klimaneutralität zum Kompass bei allen kommenden Investitions- und volkswirtschaftlichen Entscheidungen. Das Tempo der Politik entscheidet, ob der vorherrschende Investitionsattentismus bei den Schwergewichten der deutschen Industrie aufgelöst werden kann. Nur aktive Klimapolitik hilft, klimaneutrale Schlüsseltechnologien zu etablieren. Dabei braucht es einen klugen Instrumentenmix, der Klimaschutz entlang der gesamten industriellen Wertschöpfungskette forciert: Von langfristig wettbewerbsfähigen Strompreisen über den Ausgleich von Mehrkosten von klimaneutralen Schlüsseltechnologien über sogenannte Carbon Contracts for Difference bis zu Abnahmegarantien für klimaneutrale Produkte, etwa bei öffentlichen Bauvorhaben.
Schon in dieser Legislaturperiode muss die Bundesregierung politische Entscheidungen auf das Paradigma Klimaneutralität ausrichten. Zum Beispiel müssen die jährlichen Ausbauziele für Windkraftanlagen verdreifacht und für Solaranlagen verdoppelt werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass genug Strom aus Erneuerbaren Energien für eine grüne Produktion zur Verfügung steht. Auf die kommende Regierung kommt dann die entscheidende Aufgabe zu, die klimaneutrale Industrietransformation umfassend und auf europäischer Ebene anzupacken. Bis Mitte der nächsten Legislaturperiode, also bis Ende 2023 müssen bessere und gesicherte Investitionsbedingungen geschaffen sein, etwa durch Carbon Contracts for Difference. Ebenso muss die ergrünende Wirtschaft vor Konkurrenz aus Ländern mit niedrigeren Klimaschutz-Vorgaben geschützt werden – Grenzausgleichmechanismen, wie die von der EU diskutierten Carbon Border Adjustments, müssen dafür ausgehandelt werden. Auch der europäisch koordinierte Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur wird eine der zentralen Aufgabe für die nächste Bundesregierung sein.
Bedeutung der Industrie
Die deutsche Industrie verantwortet rund ein Fünftel unserer Treibhausgasemissionen, allen voran die energieintensiven Stahl-, Chemie- und Zementfabriken. Bis zur Klimaneutralität 2050 muss die Industrie ihre Emissionen um rund 180 Millionen Tonnen CO₂ senken. Dafür müssen Stahl-, Chemie- und Zementwerke ihre Produktionsstraßen komplett auf klimaneutrale Technologien umstellen. Das ist ein großangelegtes Investitions- und Modernisierungsprogramm für die deutsche Industrie. Rund ein Drittel der deutschen Wirtschaftsleistung und die Arbeitsplätze von 5,5 Millionen Menschen hierzulande hängen an der Industrie. Geht die Politik diese Trendumkehr schnell und entschlossen an, hat Deutschland die Chance, international Technologieführer bei klimaneutralen Schlüsseltechnologien zu werden – womit sich die Industrienation ein zukunftsträchtiges Exportmodell aufbauen würde. Löst der Staat das Dilemma der Industrie jedoch nicht auf, bekommen wir eine Investitionsblockade, die sich ein Industrieland wie Deutschland nicht leisten kann. Und diese Blockade ist jetzt schon spürbar.
Industriepolitik ist Klimapolitik und umgekehrt
Deshalb gilt: Wer den Industriestandort Deutschland sichern will, muss schnell und entschlossen klimapolitisch Handeln. Das hat auch die Industrie erkannt, wie wir in vielen Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern aus den betroffenen Unternehmen festgestellt haben. Im Dialog mit 17 namhaften deutschen Industrieunternehmen haben wir daher einen Katalog aus zwölf Maßnahmen zusammengestellt, die sicherstellen, dass die Transformation hin zu Klimaneutralität auf verschiedenen Ebenen angereizt und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie gewährleistet wird. Die Publikation „Klimaneutralität 2050: Was die Industrie jetzt von der Politik braucht“ steht unter www.agora-energiewende.de kostenlos zum Download bereit.
Dr. Patrick Graichen
Gestern erschien in diesem Blog der Essay von Philipp Krohn zur Nachhaltigkeit. Link
Am Samstag erschien hier ein Interview mit Axel Bojanowski, Wissenschafts- und Klimareporter der „Welt“. Link
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