Die Energiewende muss an Tempo zulegen und Sektoren übergreifend wirken. Dafür sind neue Weichenstellungen erforderlich.
Die Energiewende in Deutschland und Europa tritt in eine wichtige, vielleicht sogar die entscheidende Dekade ein. Gerade hat die Europäische Union ihre Klimaschutzziele nachgeschärft und sich auf eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 55 Prozent bis zum Jahr 2030 geeinigt; Klimaneutralität wird bis 2050 angestrebt. Damit verbunden sind enorme Anstrengungen, um diese verbindlichen Zahlen dann auch in konkretes Handeln umzusetzen, denn viele der sogenannten Low-Hanging-Fruits bei der Emissionsreduzierung sind zumindest in unserem Land bereits geerntet. Deutschland konnte sein 40 Prozent-Reduktionsziel 2020 nahezu punktgenau erreichen, dank des überdurchschnittlichen Beitrags der Energiewirtschaft, und dort insbesondere des Stromsektors. Daran wiederum hat der Ausbau der Erneuerbaren Energien in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen maßgeblichen Anteil.
Jetzt kommt es darauf an, den nächsten Schritt auf dem Weg zur Dekarbonisierung unserer Gesellschaft zu gehen, die Energiewende noch einmal zu beschleunigen und insbesondere in den Verfahren auf politischer, administrativer und gerichtlicher Ebene schneller als bisher zu klaren Entscheidungen und Umsetzungsschritten zu kommen. Dabei spielen Netzbetreiber, sowohl auf der Verteilnetz- wie auch auf der Übertragungsnetzebene, eine entscheidende Rolle. Über ihre Infrastruktur wird das Gut transportiert, das unverzichtbar ist für unsere moderne Industriegesellschaft: Strom.
Strom wird immer wichtiger bei der Dekarbonisierung des Verkehrssektors durch den Switch von Verbrennungs- zu Elektrofahrzeugen. Strom wird immer wichtiger bei der Dekarbonisierung des Wärmesektors, weil immer mehr neue und modernisierte Wohn- und Geschäftsgebäude mit Wärmepumpen beheizt werden. Strom wird auch immer wichtiger für die Dekarbonisierung der Industrie, sei es durch direkte elektrische Anwendungen in der Grundstoffindustrie, sei es durch den Einsatz von Elektrolyseuren zur Erzeugung von Wasserstoff – etwa für die Stahlindustrie. Daher ist die „Sektorenkopplung“, einst ein Begriff für Fachleute, längst in der energiewirtschaftlichen Realität angekommen.
50Hertz als einer von vier Übertragungsnetzbetreibern in Deutschland hat 2020 die strategische Initiative „von 60 auf 100 bis 2032 – Neue Energie für eine starke Wirtschaft“ gestartet. Diese Initiative hat zwei Zielrichtungen, die eng miteinander verzahnt sind. Zum einen wollen wir zusammen mit Politik, Wirtschaft und gesellschaftlich relevanten Gruppen in unserem Netzgebiet dafür sorgen, dass alle ökonomisch und ökologisch sinnvollen Potenziale zur Nutzung von Erneuerbaren Energien ausgeschöpft werden. Zum anderen wollen wir den Industriebetrieben in unserem Netzgebiet den Zugang zu diesem „grünen“ Strom ermöglichen, damit gute Arbeitsplätze in diesen Regionen erhalten – und neue geschaffen werden können.
Wir selbst investieren bis 2030 fast 10 Milliarden Euro in die Energiewende-Infrastruktur: in leistungsfähige Höchstspannungsleitungen, in Umspannwerke, neue und moderne Betriebsmittel und verstärkt auch in digitale Technologien, die für die sichere Integration von großen Mengen Strom aus Erneuerbaren unverzichtbar sind und zukünftig einen immer wichtigeren Beitrag haben zur Flexibilisierung unseres Energiesystems.
Die Gewerkschaft als Partner im Boot
Ein wichtiger Partner zur Umsetzung unserer Strategie ist die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE). Gemeinsam mit ihr haben wir im Frühjahr dieses Jahres mit Ministerpräsidenten, Ministern, Staatssekretären und den Spitzen der wichtigsten Branchenverbände im Rahmen eines ersten Auftakt-Round-Tables über die Wege zu 100 Prozent Erneuerbarer Energie bis 2032 diskutiert. Alle waren sich einig, dass nach dem Beginn des Kohleausstiegs nun ein schneller Einstieg in neue Technologien der Sektorenkopplung kommen muss. Als Grundlage dafür unerlässlich: mehr erneuerbare Energieträger und eine verlässliche Netzinfrastruktur. Weitere gemeinsame Round-Table-Treffen mit verschiedenen Branchen, Verbänden und der Politik folgen im Jahresverlauf – um die entscheidenden Stellschrauben zu identifizieren und miteinander konkrete Lösungsvorschläge zu erarbeiten.
Um unsere Strategie – und daraus abgeleitet auch die Energiewende insgesamt – zum Erfolg zu führen, sind aus unserer Sicht neue Weichenstellungen erforderlich:
Erstens: Mehr Erneuerbare an Land und auf See. Allein in unserem Netzgebiet ist bis in die 2030er Jahre mit einer Zunahme des Stromverbrauchs um mindestens 20 Prozent zu rechnen. Um diesen steigenden Bedarf zu decken, müssen sämtliche Ausbau- und Anschlusspotenziale für Erneuerbare Energien ausgeschöpft werden. Der Ausbau der Photovoltaik befindet sich angesichts weiter sinkender Preise für die Module auf einem guten Weg. Die Ausbauraten für Windkraft an Land müssten jedoch verdoppelt werden – und dafür müssen die Länder nicht nur dringend weitere, ausreichend geeignete Flächen zur Verfügung stellen, sondern auch unbedingt das Repowering – also das Weiternutzen von Bestandsanlagen auf bereits genutzten Flächen – ermöglichen und erleichtern.
Zweitens: Versorgungssicherheit und Systemstabilität gewährleisten. Es ist eine Binsenweisheit: Sonne und Wind stehen nicht rund um die Uhr oder an allen Tagen des Jahres uneingeschränkt als Energielieferant zur Verfügung. Wenn nach und nach immer mehr gesicherte fossile Leistung vom Netz geht, brauchen wir für diese sogenannten „Dunkelflauten“ einen Ersatz – und das auch jenseits von Reserven im benachbarten Ausland. Das könnten übergangsweise Kraftwerke auf Erdgasbasis sein, langfristig aber Anlagen auf der Basis Erneuerbarer Energien. Auch technische Betriebsmittel müssen in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen, denn sie kompensieren den Wegfall der großen Generatoren in den Kraftwerken, die bisher für Systemdienstleistungen wie Momentanreserve, Frequenz- und Spannungshaltung oder Netzwiederaufbau nach einem Stromausfall zur Verfügung stehen.
Drittens: Netzausbau beschleunigen. Dazu müssen in erster Linie behördliche Genehmigungsverfahren und Gerichtsprozesse schneller zu Ergebnissen führen. Wir schlagen daher vor, zur Entlastung der oftmals knapp besetzten Landesbehörden verstärkt das Instrument des externen Projektmanagements einzusetzen. Diese Expertinnen und Experten werden von den Vorhabenträgern finanziert – sind aber gegenüber den Aufsichtsbehörden weisungsgebunden. Auch halten wir es für sinnvoll, am Bundesverwaltungsgericht zwei Senate einzurichten, die sich ausschließlich mit Infrastrukturvorhaben im Energiebereich beschäftigen.
Viertens: Wasserstoff sinnvoll einsetzen. Rund um den altbekannten Energieträger Wasserstoff ist in den vergangenen ein bis zwei Jahren ein regelrechter Hype ausgebrochen. Tatsächlich kann und muss Wasserstoff einen entscheidenden Beitrag leisten zur Dekarbonisierung der energieintensiven Industrien. Allerdings wird grüner Wasserstoff auf absehbare Zeit nur äußerst kostenintensiv und begrenzt herstellbar sein. Zudem ist die Umwandlung von grünem Strom mittels Elektrolyse mit erheblichen Wirkungsgradverlusten verbunden. Und schließlich wird der erneuerbare Strom auch für rein elektrische Anwendungen im Energie-, Verkehrs- und Wärmesektor dringend benötigt. Daher sind genauere wissenschaftliche Analysen und Prognosen erforderlich, wieviel Wasserstoff wir wirklich in Deutschland und Europa aus Erneuerbaren Energien herstellen können – und wieviel wir aus anderen Regionen dieser Welt importieren müssen. Auf jeden Fall wäre es vorschnell, schon heute exakte Festlegungen für eine Wasserstoff-Infrastruktur zu treffen. Für den jetzt anstehenden Markthochlauf der Wasserstoff-Technologie ist es effizient, Elektrolyseanlagen grundsätzlich zunächst in unmittelbar Nähe von Industriestandorten zu errichten, an denen es bereits eine gute Anbindung an das bestehende Stromnetz gibt.
Fünftens: Umlagen- und Abgabensystem reformieren. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) war – von der damaligen rot-grünen Bundesregierung im Jahr 2000 auf den Weg gebracht – als Initialzündung für den Ausbau einer Erneuerbaren-Industrie ein wichtiges Instrument. Heute ist jedoch eine grundlegende Reform der Abgaben- und Umlagesysteme erforderlich, weil sie sich in ihrer Wirkung teilweise gegenseitig behindern. Umgelegt und gewälzt werden die Kosten, die bei den einzelnen Verbrauchenden auf dem Stromzähler erscheinen – vollkommen unabhängig davon, ob dieser Verbrauch einer CO2-Minderung dient oder nicht. Daher war die Einführung einer CO2-Bepreisung auf fossile Brenn-und Kraftstoffe ein erster richtiger Schritt, dem nun weitere wirksame Schritte hin zu einer Abgabenordnung folgen müssen, die sich ausschließlich an den Klimaschutzzielen orientiert.
Im September wählen die Deutschen einen neuen Bundestag. Neben der Bewältigung der Corona-Pandemie ist der Klimaschutz eines der zentrales Themen auf der Agenda aller demokratischer Parteien. Wie können wir diese Jahrhundertaufgabe bewältigen? Welche Chancen verbinden sich damit auch für unsere Wirtschaft – und nicht nur welche Risiken? Und wie können wir die enormen Finanzmittel aufbringen und die entstehenden Lasten einigermaßen gerecht verteilen? All diese Fragen wird eine neue Regierung beantworten und zufriedenstellend lösen müssen. 50Hertz als ein Unternehmen, das der Systemsicherheit verpflichtet ist, den Klimaschutz als oberstes Ziel definiert und dabei die Wirtschaftlichkeit nicht aus den Augen lässt, steht als verlässlicher Partner in dieser Debatte bereit!
Stefan Kapferer
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